Perspektiven in der Heimat

Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit: Flüchtlingshilfe im Nordirak

pdfRGOW 1/2016, S. 28-29

Die Lage der intern Vertriebenen im Irak hat sich seit 2014 dramatisch verschlechtert. Nach anderthalb Jahren Leben unter schwierigsten Bedingungen macht sich Hoffnungslosigkeit breit, und viele Familien brechen nach Westeuropa auf. Die lokale Hilfsorganisation Christian Aid Program Northern Iraq (CAPNI) lindert die Not der Flüchtlinge mit ihren Bildungs-, Gesundheits- und Entwicklungsprogrammen und versucht, ihnen eine Perspektive in ihrer Heimat zu geben, wie der Koordinator von CAPNI, Erzpriester Emanuel Youkhana, im Interview berichtet.

G2W: In den letzten Monaten sind Tausende Syrer und Iraker nach Westeuropa geflohen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Emanuel Youkhana:
Der Massenexodus nach Westeuropa ist das Resultat von sog. push- und pull-Faktoren, also Ursachen, die die Migranten aus der Heimat vertreiben, und Faktoren, die sie im Zielland anziehen. Push-Faktoren sind die schwierigen Lebensbedingungen in den jeweiligen Heimat- und Nachbarländern (Türkei, Libanon, etc.). Der Syrienkonflikt dauert nun schon fünf Jahre ohne Aussicht auf ein baldiges Ende dieses Desasters. Er hat bereits mehr als 200 000 unschuldigen Menschen das Leben gekostet, Millionen zur Flucht gezwungen und das Land zerstört. Im Irak kontrolliert der sog. Islamische Staat (IS) schon seit anderthalb Jahren die Gouvernements Ninive und Anbar sowie weite Gebiete in anderen Gouvernements. Es gibt keine Anzeichen, dass die vertriebenen Menschen bald zurückkehren können. Im Gegenteil, die Situation ist aufgrund vermehrter militärischer Aktionen und Interventionen noch komplizierter geworden. Die Menschen verlieren nach dieser langen Zeit des Wartens in Lagern, verlassenen Häusern, abgelegenen Dörfern, ohne lebensnotwendige Güter und verletzt in ihrer Würde, ihre Zukunftsperspektive und fühlen sich hilflos und hoffnungslos. Andererseits wirken die meist gute Aufnahme in Westeuropa und die Politik der offenen Grenzen attraktiv und bewegen mehr Familien dazu, das Risiko der gefährlichen Flucht auf sich zu nehmen.

In unserem letzten Interview (s. RGOW 11–12/2014, S. 28–29 ) haben wir über die Situation in den vom IS kontrollierten Gebieten gesprochen. Ist es gelungen, den IS zurückzudrängen?
Ja und nein. Während der IS in einigen Gebieten auf dem Rückzug ist, konnte er in anderen vorrücken. In mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gegenden hat der IS leichtes Spiel, er kann sich einfügen und ausbreiten. Um den IS dauerhaft und wirksam zu bekämpfen, muss daher die sunnitische Bevölkerung gewonnen werden. Eine wichtige Veränderung vor Ort war die Rückeroberung von Sinjar dank der gemeinsamen Bemühungen der kurdischen Peschmerga, Kämpfern der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), jesidischen Kämpfern und den von den USA angeführten Luftschlägen. Dabei ist erstens der symbolische Aspekt wichtig, da Sinjar die Stadt der Jesiden ist, wo die Massenmorde an ihnen stattgefunden haben. Zweitens die militärische Bedeutung, da die 190 km lange Straße 47, welche die vom IS beherrschten Gebiete um Mosul mit Syrien verbindet, nun unterbrochen ist. Die alternative Route ist mehr als 600 km lang und wird die militärische Stärke des IS mindern. Allerdings wird es aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der weitgehend zerstörten Infrastruktur so bald keine Rückkehrbewegung der Jesiden geben.

Die Ninive-Ebene, in der die meisten Christen und andere Minderheiten (Jesiden, Schabak, Kakai) leben, ist momentan keine Kampfzone und wird es in nächster Zeit auch nicht sein, da sie sehr nahe bei Mosul liegt. Die türkischen Bodentruppen, die ohne die Erlaubnis der irakischen Regierung dorthin entsandt wurden, verkomplizieren jedoch neu die Situation in der Ninive-Ebene. In den Regionen Al-Anbar und Beji rückt die irakische Armee mithilfe schiitischer und sunnitischer Miliztruppen vor. Wahrscheinlich wird Al-Ramadi, die Hauptstadt des Gouvernements Al-Anbar, bald unter Kontrolle der irakischen Truppen kommen. Wichtiger ist jedoch, dass Mosul, die zweitgrößte irakische Stadt, noch immer eine IS-Hochburg ist. Daher werden vertriebene christliche Familien in nächster Zeit nicht nach Ninive und Mosul zurückkehren. Dies führt zum erwähnten Massenexodus nach Jordanien, Libanon und vor allem in die Türkei, Transitstation auf dem Weg in den Westen.

Wie ist die Lage der Flüchtlinge in Syrien und im Irak? Was benötigen sie am dringendsten?
Die momentane Situation ist schwieriger als zu Beginn des Unglücks im Sommer 2014, weil die Ressourcen fehlen, um die materiellen Bedürfnisse der Vertriebenen zu decken. In Dohuk beispielsweise, wo CAPNI schwerpunktmäßig arbeitet, leben 1,3 Mio. Menschen und seit 2014 zusätzlich rund 700 000 Flüchtlinge. Dieses Verhältnis ist unverändert, während die Ressourcen sich verringert haben. 40 Prozent der Flüchtlinge sind in schlechten Lagerunterkünften untergebracht, die anderen wohnen in der Stadt verteilt. Es gibt große Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln sowie im Gesundheits- und Bildungswesen. Zusätzlich belastet die fehlende Heimkehrperspektive die Flüchtlinge psychisch. Depressionen und Hoffnungslosigkeit sind die größten Herausforderungen. Die Lage wird sich verschlechtern, wenn die IS-kontrollierten Gebiete nicht befreit werden und die Menschen keine Hoffnung auf Rückkehr haben.

Wie steht es um die religiösen Minderheiten wie Christen und Jesiden?
Die Situation der religiösen Minderheiten, die vom IS verfolgt wurden, ist noch schwieriger, weil sie aufgrund ihrer Identität und ihres Glaubens bedroht wurden. Ihre Verluste übersteigen das Materielle – sie haben ihre Würde verloren. Nun vertrauen sie dem System und ihren Nachbarn nicht mehr. Darum wollen inzwischen einige alles zurücklassen und nach Westen ziehen. Andere hingegen wollen bleiben und bitten um internationale Hilfe, um in ihre Dörfer und zu ihrer Existenz zurückkehren zu können.

Was sagen Sie den Menschen, die den Irak verlassen wollen?
Ich verstehe und respektiere diese Entscheidung. Ich glaube, dass Emigration und Diaspora eine individuelle Lösung sein können, aber niemals die Lösung für das kollektive Problem der einheimischen religiösen und ethnischen Minderheiten. Wir leben das orientalische Christentum seit 2 000 Jahren. Wir haben in unseren Ländern und der Welt eine große Rolle gespielt, unser Erbe ist sehr reich. Das werden wir verlieren, wenn wir unsere Heimat verlassen – das wäre ein großer Verlust für alle. Zudem werden wir jetzt mehr denn je zuhause gebraucht. Wir könnten Friedensstifter und eine Brücke zwischen den verschiedenen Gruppen in unserem Land sein. Daher versuchen wir die Leute vom Bleiben zu überzeugen. Unser Volk hofft auf eine Zukunft auf Grundlage der Menschenrechte und arbeitet an einer gemeinsamen Perspektive für unser Land. Einem Land, in dem alle Bürger vor dem Gesetz gleich sein und ihre Rechte haben. Allerdings braucht es konkrete Pläne und Fortschritte, um die Hoffnung zu nähren. Wir setzen alles daran, die Vertriebenen im Irak zu halten, aber es ist fast unmöglich, solange keine klaren Schritte unternommen werden, die ihr andauerndes Leiden lindern.

CAPNI hat ein Bildungsprogramm für vertriebene Schüler lanciert. Was sind die Ziele und Maßnahmen dieses Programms?
Das Bildungsprogramm ist eines der wichtigsten Programme von CAPNI. Tausende von Kindern und Jugendlichen haben das Schuljahr 2014/2015 verpasst, weil sie flüchten mussten. Außerdem fehlen Lehrer und Schulen mit arabischem Lehrplan und finanzielle Mittel für den Transport. Die vertriebenen Kinder hatten in ihren Heimatstädten und Dörfern arabische Schulen besucht, hier in der Region Dohuk findet der Unterricht jedoch auf Kurdisch statt. Ohne Gegenmaßnahmen werden diese Kinder ein zweites Schuljahr und damit ihre Zukunft verlieren. CAPNI ist es mit der Hilfe von Misereor und der Ev.-Luth. Kirche in Bayern gelungen, Busse zu mieten, um die Kinder aus abgelegenen Dörfern zur nächsten arabischsprachigen Schule zu fahren. Das Programm stellt den Transport von rund 2500 Grund- und Sekundarschülern sicher. Zudem versorgen wir die Kinder mit Schulmaterial.

Was sind die weiteren Schwerpunkte von CAPNI?
Im Rahmen unseres Gesundheitsprogramms betreiben wir zwei mobile Kliniken, mit denen medizinische Teams regelmäßig abgelegene Dörfer besuchen, um kostenlose Untersuchungen, medizinische Grundversorgung und Medikamente für chronische Krankheiten anzubieten. Zusätzlich betreiben wir das öffentliche Krankenhaus in Snony, in der Gegend von Sinjar.

Durch Berufsbildungskurse, Kurdischunterricht und Anregung zu kleinen Unternehmen (z. B. Bäckerei, Friseursalon, Autowerkstatt) helfen wir den Vertriebenen ihre Chancen auf Arbeit zu erhöhen und so ihre Existenz zu sichern. Unterstützt von unseren Partnern (Kirchen und humanitären Organisationen) haben wir ein umfangreiches Verteilungsprogramm gestartet, das Vertriebene mit Gütern für den Winter (Kerosinheizungen, Kerosin, Decken, Matratzen, etc.), Lebensmitteln und Hygieneartikeln sowie Gütern für den Sommer (Luftkühler, kleine Kühlschränke, Kühlboxen für Wasser, Sommerbetttücher) versorgt. Zusätzlich erhält CAPNI Lieferungen von Hilfsgütern (Kleider, Rollstühle, Schulutensilien, etc.) aus dem Ausland und verteilt sie an bedürftige Vertriebene.

Psychosoziale Programme für Kinder und Frauen: CAPNI führt zehn „kinderfreundliche“ Räume, wo vertriebene Kinder jeden Tag einige Stunden mit Sport, Musik, Aktivitäten im Freien und Grundschulbildung verbringen, um den psychischen Druck zu reduzieren. Dasselbe bieten wir für Frauen in zwei „frauenfreundlichen“ Räumen an. Wir unterstützen außerdem die lokalen Kirchen in der Katechese, ihren sozialen und Bildungsprogrammen, besonders für Kinder und Jugendliche. Zudem reparieren wir u. a. Schulen, Wasserleitungen und Bewässerungskanäle.

Wie kann der Westen Ihrer Ansicht nach den Menschen im Irak und Syrien am besten helfen?
Die europäischen Regierungen sollten Menschenrechtsverletzungen im Rest der Welt nicht tolerieren. Während sie ihre ökonomischen und politischen Interessen verfolgen, sollten sie in ihren Partnerländern nicht die Augen vor Menschenrechtsverletzungen verschließen. Es gilt daher langfristige und nachhaltige politische Lösungen für den Nahen Osten in Zusammenarbeit mit den USA und Russland zu finden. Wichtig erscheint mir auch ein anderer Umgang mit der Flüchtlingskrise, der sich auf die Ursachen des Problems, statt auf die Ergebnisse konzentriert.

Konkret könnten die europäischen Regierungen und Kirchen die Vertriebene durch Hilfsprogramme unterstützen, die deren Arbeitsmöglichkeiten verbessern. Betroffene sagen uns immer wieder, dass ihnen dies Sinn und Hoffnung verleiht. Medienkampagnen, die von gemäßigten religiösen Führern mitgetragen werden, könnten bei der Wiederherstellung eines friedlichen Zusammenlebens helfen, z. B. unter einem Titel wie „Zusammen sind wir stärker“. Eine breite Kampagne könnte zeigen, dass gegenseitiger Respekt und Zusammenarbeit notwendig für den Frieden sind. Zudem sollten zivilgesellschaftliche Bewegungen und Initiativen unterstützt werden, die sich für Menschen- und Bürgerrechte einsetzen.

Sie können die Arbeit von CAPNI mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Irak“ unterstützen.