Soziales Café eröffnet

 Regula Spalinger im Gespräch mit Juliana Nikitina

pdfRGOW 12/2018, S. 28-29

Erstes soziales Café in St. Petersburg eröffnet

Das Basilius-Zentrum in St. Petersburg, das sich straffällig gewordener Jugendlicher annimmt, hat am 26. Oktober 2018 in St. Petersburg eines der ersten sozialen Cafés in Russland eröffnet. Das Café dient als Begegnungsraum, um Vorurteile gegen straffällig gewordene Jugendliche abzubauen, und als Ort, an dem die Jugendlichen im Zuge ihres Rehabilitationsprogramms erste Berufserfahrungen sammeln können. Außerdem berichtet Juliana Nikitina, die Leiterin des Basilius-Zentrums, von der „Schule der Wanderschaft“ im hohen Norden Russlands. 

G2W: Lassen Sie uns zunächst auf das wichtigste Ereignis Ihres Zentrums im Sommer zurückblicken. Wie ist die diesjährige „Schule der Wanderschaft“ verlaufen?
Juliana Nikitina: Die „Schule der Wanderschaft“ führte von Ende Juni bis Ende August vom äußersten Nordwesten Russlands über Karelien bis ins Leningrader Gebiet. Zum ersten Mal waren während der schwierigsten Etappe über das Gebirge der Chibinen (Kola-Halbinsel) Studenten der Orthodoxen Hl. Tichon-Universität aus Moskau als freiwillige Helfer beteiligt. Ebenfalls zum ersten Mal dabei waren auf diesem Abschnitt zwei Mädchen aus unserer Mädchen-Rehagruppe. Die beiden wollten unbedingt teilnehmen. Die Mädchen erwiesen sich als sehr belastbar und verhielten sich vorbildlich. Ihre Teilnahme hatte sogar einen positiven Effekt auf die Jungen, die sich bemerkbar „gesitteter“ gaben als gewöhnlich. Doch am Ende der mehrtägigen Chibinen-Tour erklärten sie erschöpft: Hätten sie nur einen Zehntel der Anstrengungen gekannt, hätten sie sich nie dazu entschlossen. Nach 30 km in den Bergen mit felsigen unwirtlichen Abhängen konnten sie an einem Abend nicht einmal mehr das Essen in den Händen halten. Sie waren so müde, dass sie nur noch ins Zelt krochen und sofort einschliefen. Auch die Wetterverhältnisse waren diesmal herausfordernd: es gab zeitweise Nebel und immer wieder viel Wind.

Wie war die Stimmung in der Gruppe?
In der bergigen Lovozjorskaja-Tundra bei der Ortschaft Revda, als die Gruppe gerade ihr Zeltlager aufgeschlagen hatte, ging ein schrecklicher, nicht enden wollender Wolkenbruch nieder. Da entschloss sich der Leiter mit allen zum Zusammenpacken und Weitermarschieren. Solche Erlebnisse schweißten die Gruppe noch mehr zusammen. Die Jugendlichen erfanden sogar scherzhafte Spiele, um sich gegenseitig aufzumuntern. Nach den Chibinen folgten die Solovezki-Inseln im Weißen Meer, wo wir mit den Mönchen des Klosters gleich mehrere unvergessliche Feiertage erleben durften. Die Energie von dort begleitet mich jeweils noch zwei Monate lang. Es ist ein unbeschreiblicher Ort. Die Jugendlichen drücken ihre inneren Erlebnisse selten durch Worte, sondern durch Handlungen aus. Einer der Jungen entschloss sich dort zur Taufe. Auch einmalige lustige Momente ergaben sich: Als einige Jugendliche sich zur Beichte entschlossen, fragte einer über die still wartende Schlange der Gläubigen hinweg: „Juliana Vladimirovna, soll ich nur beichten, dass ich Drogen genommen habe, oder gehört das Handeln mit Drogen auch dazu?“ Es gab Momente der inneren Stille bei den Jugendlichen und Erwachsenen. Die Natur auf den Inseln ist wunderschön. In Karelien, drei Tage vor Rückkehr, ziehen wir in der Gruppe gewöhnlich ein Fazit. Neben den positiven Punkten werden auch schwierige Erfahrungen besprochen, was schmerzhaft, aber hilfreich ist. Jedem Jugendlichen widmen wir dabei mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht eine Stunde oder mehr. Nach der Rückkehr besprechen wir zusammen mit den Eltern nochmals die Stärken eines jeden Jugendlichen und seine einzigartigen Wesensmerkmalen, die auf der Wanderschaft hervorgetreten sind

Wie gliedert sich die Wanderschaft in das Rehabilitationsprogramm der Jugendlichen ein?
Die „Schule der Wanderschaft“ findet am Schluss unseres vierstufigen Rehabilitationsprogramms statt, das in der Regel zwölf Monate dauert. Auf der Wanderschaft sind nochmals alle Grundprinzipien der Rehabilitation enthalten: das Prinzip der Freiwilligkeit, der Offenheit, der gegenseitigen Achtung und das Ausschließen von „doppelten Standards“. Diese Prinzipien kommen während der Wanderschaft besonders stark zum Ausdruck. Denn die begleitenden Erwachsenen leben unter den gleichen Bedingungen wie die Jugendlichen; auch für sie stellt die Wanderschaft eine große Prüfung dar. Es ist ein gemeinsames anstrengendes Unterfangen. Als Team wird gearbeitet, gekocht, aufgebaut etc. Und die Jugendlichen sehen, dass es für die Erwachsenen genauso schwer ist. Während dieser langen Reise zu Fuß entstehen neue Beziehungen und es werden neue Erfahrungen gesammelt.

Dieses Jahr stand zudem die Einrichtung eines sozialen Cafés in St. Petersburg an. Welche Hürden waren dabei zu nehmen?
Bei der Verlegung der Rohre für die Kanalisation stießen wir auf die ersten Schwierigkeiten. Das Bauvorhaben war sehr anspruchsvoll, denn in unserem Gebäude fehlt eine Unterkellerung. Wir erhielten verschiedene Angebote mit unrealisierbar langen Projektzeiten oder zu astronomischen Preisen. Schließlich fanden wir ein Sanitärunternehmen aus dem benachbarten Stadtbezirk, das uns ein deutlich günstigeres Angebot unterbreitete als die Firmen aus unserem Viertel auf der Basilius-Insel. Mit Hilfe dieser professionellen Handwerker gelang es, das technisch schwierige Unternehmen unter Dach und Fach zu bringen.
Eine neue schwierige Situation entstand im Zusammenhang mit der lokalen Vertriebsfirma für eine bekannte italienische Kaffeemarke. Über ein Jahr hatten wir mit der Firma Gespräche geführt und eine vertragliche Zusage zur Zusammenarbeit, inkl. Lieferung von Kaffee und Kaffeemaschine, erhalten. Doch zwei Wochen vor Eröffnung des Cafés trat die Firma aufgrund eines Managementwechsels vom Projekt zurück. Das war für uns, milde ausgedrückt, ein kleineres Erdbeben. Dank der Leiterin einer uns freundschaftlich verbundenen Boutique, wo u. a. die von unseren Jugendlichen hergestellten Naturseifen und Töpferwaren verkauft werden, konnten wir jedoch innerhalb kurzer Zeit eine neue ausgezeichnete Partnerfirma gewinnen. So konnten wir, wie geplant, am 26. Oktober unser soziales Café „Prosto“ (russ. „Einfach“) feierlich eröffnen.

Auf welches Echo stößt das soziale Café?
Wir haben sowohl lokale als auch internationale Gäste, die häufig im gegenüberliegenden Hostel übernachten. Kürzlich war eine italienische Reisegruppe da, die unseren Kaffee genauso schmackhaft fand wie in Italien. Am ersten Sonntag nach der Eröffnung besuchte uns Vater Alexander Stepanov, der Gründer des Basilius-Zentrums, mit einer ganzen Schar Gemeindeglieder und Kindern zu Kaffee, Kakao, Eis und Kuchen. Immer wieder kommen neue Besucher oder unsere Nachbarn stoßen zu Gesprächen hinzu. Bei diesen Begegnungen und den kulturellen Veranstaltungen, die unsere Sozialarbeiterin Daria Tschudnovskaja als Leiterin des Cafés mit ihren jugendlichen Helfern organisiert, ergeben sich für uns neue Möglichkeiten des öffentlichen Auftretens. Das Café soll als Ort des Austausches und als berufliche Trainingsmöglichkeit für interessierte Jugendliche dienen, die bei uns das Rehabilitationsprogramm durchlaufen. Ein Jugendlicher, Mitja, hat bereits das Training für den Praxiseinsatz absolviert. Auch sollen hier an verschiedenen Anlässen freiwillige Helfer mitwirken. Eine erste Veranstaltung mit Rehabilitanden und jungen Helfern konnten wir kürzlich im kleinen Nebensaal und im Café durchführen.

Welche Aufgaben stehen als nächstes an?
Die Einrichtung des Cafés ist nun geschafft. Doch es bleibt noch viel zu tun: Nach dem Auszug einer Mieterin im zweiten Stock unseres Gebäudes haben wir diesen Etagenteil komplett geräumt. Die Zimmer, die viele Jahrzehnte nicht renoviert wurden, sollen nun zu Schlafräumen für die Jugendlichen umgebaut werden. Für das Erdgeschoss, wo ein Teil der Jungen aus unserem Rehabilitationsprogramm schläft, konnten wir dank einer Stiftung bereits Betten erwerben. Es fehlen jedoch noch Tische und Stühle. Im Nebenraum zum Café, in dem Vorträge und Veranstaltungen stattfinden, gibt es derzeit noch nicht genügend bequeme Sitzmöglichkeiten. Dies möchten wir möglichst schnell ändern. Als nächster Schritt steht die Renovation der Schlafräume im zweiten Stock an. Dies können wir jedoch nur nach und nach anpacken, da uns leider die Mittel fehlen, um die Umbauten und die Einrichtung rasch abzuschließen.

Sie können die Arbeit des „Basilius-Zentrums“ in St. Petersburg mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Basilius-Zentrum“ unterstützen.