Auf dem Weg zu einer russlandweiten Witwenhilfe
Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Lepeschonok, Alexandra Starostenko und Nina Rjabova
Der Wohltätigkeitsfonds „Mit Rat und Tat“ ist die erste NGO in Russland, die Witwen und deren Kinder unterstützt. Aufgrund des großen Bedarfs an Beratung ist im letzten Jahr ein landesweites Selbsthilfenetzwerk für Witwen entstanden. Zudem hat „Mit Rat und Tat“ eine neue Ratgeberbroschüre herausgegeben, die Witwen Antworten auf dringende juristische Fragen bietet.
G2W: „Mit Rat und Tat“ betreut gegenwärtig 170 Familien. Das sind bereits achtmal mehr Betroffene als im Gründungjahr 2017. Warum ist der Bedarf an Beratung so groß?
Alexandra Starostenko: Das große Interesse schreibe ich vor allem dem Umstand zu, dass sich in Russland zuvor kaum jemand der psychisch und materiell weitgehend alleingelassenen Hinterbliebenen angenommen hat. Das Thema Tod ist immer noch stark tabuisiert, und die staatlichen Renten sind nicht existenzsichernd. Wir haben jedoch offen darüber gesprochen, dass es normal ist, beim Verlust eines Angehörigen Schmerz zu erfahren. Auch sprechen wir offen darüber, wie wichtig für die Hinterbliebenen fachliche Hilfe und Unterstützung sind. Neben dem Aufbau der Beratungstätigkeit hier in St. Petersburg können wir so dazu beitragen, dass die schwierige Lage der Witwen und ihrer Kinder nicht länger totgeschwiegen wird.
Elena Lepeschonok: Ich möchte einen weiteren Aspekt hinzufügen. Zeitgleich mit unserem Fonds entstand eine Organisation, die Angehörige zu unterstützen versuchte, die einen Nächsten durch Suizid verloren hatten. Diese NGO hielt allerdings nur ein Jahr durch, denn die Mitarbeitenden erlitten durch die schwere Thematik, die sie bearbeiteten, ein Burnout. Als wichtigster Punkt, weshalb sich „Mit Rat und Tat“ weiterhin gut entwickelt, scheint mir die Art zu sein, wie wir uns innerhalb unseres Teams, dem u. a. eine Sozialarbeiterin, zwei Psychologen und eine Juristin angehören, gegenseitig unterstützen. Wenn jemand Hilfe braucht, stehen wir einander zur Seite. Wenn es nötig ist, kann eine Mitarbeitende auch mal ein oder zwei Monate Pause nehmen und dann wieder zum Team stoßen. Emotionen dürfen sein, werden geäußert und geteilt, so dass sich daraus Verbesserungen ergeben können.
Mit welchen Folgen sind Witwen und Waisen aufgrund der nicht existenzsichernden Renten konfrontiert?
Elena Lepeschonok: Russland besitzt durch seine Größe eine hohe Zahl an Rentnerinnen und Rentnern. Dadurch liegt ein großer Finanzdruck auf dem Pensionsfonds. Aus diesem Fonds werden nicht nur für Hinterbliebene, sondern für alle Rentenbezüger*innen, äußerst bescheidene Renten ausbezahlt. Für Witwen mit Kindern, die plötzlich ihren Mann bzw. ihren Vater und damit den (Haupt-)Ernährer der Familie verloren haben, entsteht eine mehrfache Krise: Die betroffenen Frauen müssen, praktisch ohne psychische Erholungszeit, das Durchkommen ihrer Familie sichern, eine Stelle suchen, allenfalls eine Umschulung oder Weiterbildung machen. Eventuell bieten sie Dienste an, die zu Hause ausgeführt werden können, z. B. einen Auftrags-Nähservice oder Internet-Verkäufe. Dies alles ist sehr schwierig. Dazu kommt, dass die Witwen nun allein die Verantwortung der Kindererziehung tragen. Selbst wenn sie das Glück haben, eine – meist nicht sonderlich gut bezahlte – Arbeitsstelle zu finden, reagieren die wenigsten Arbeitgeber mit Verständnis, wenn die Mutter wegen Erkrankung der Kinder, Schul- oder Arztterminen fehlt.
Welche staatlichen Fachstellen gibt es in Russland für Hinterbliebene?
Alexandra Starostenko: In erster Linie sind das die allgemeinen Hilfszentren zur Unterstützung von Familien und Kindern. Sie können in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Namen tragen und besitzen ein sehr breites Profil. Für die ratsuchenden Witwen ergeben sich bei diesen Stellen verschiedene Probleme. Für einen Termin bei einer juristischen Fachperson der Stelle bestehen lange Wartelisten. Auch ist die Qualität der Beratungen oftmals zweifelhaft. Spezialisten, die sich in den psychologischen, sozialen oder rechtlichen Fragen von Hinterbliebenen gut auskennen, gibt es bei diesen Zentren gewöhnlich nicht. Außerdem fürchten einige Witwen mit Kindern, dass ihnen das Sorgerecht abgesprochen werden könnte, wenn sie sich mit ihren Problemen an eine staatliche Stelle wenden. Der allergrößte Teil der Witwen in Russland lebt in Armut oder kommt gerade knapp durch. Sie können sich eine qualifizierte Beratung bei privaten Experten nicht leisten. Unser kostenloses, sorgfältig aufgebautes Angebot ist deshalb etwas, was die meisten Witwen zuvor vermisst haben.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit aus?
Elena Lepeschonok: Die physischen Gruppentreffen haben wir stark reduziert, während der kritischsten Monate fanden sie gar nicht statt. Da wir für 2020 sowieso unser großes Projekt zum Aufbau eines russlandweiten Online-Netzwerks für Witwen geplant hatten, gelang uns die Umstellung auf virtuelle Beratung zum Glück fast reibungslos. Den psychologischen Unterstützungskurs führten wir im Internet durch. Auch verstärkten wir Webinare, Online-Treffen mit jeweils wenigen beteiligten Frauen und geschützte Gruppen-Chats. Was im vergangenen Jahr am meisten gelitten hat, waren die Freizeitanlässe für Witwen und ihre Kinder. Auch die Gesprächskreise unserer Selbsthilfegruppen konnten leider nur sehr eingeschränkt physisch stattfinden. Online-Treffen sind dafür kein vollwertiger Ersatz. Vor kurzem konnten wir dank Ihrem Institut eine besondere Hilfsaktion für die Witwen und ihre Kinder durchführen: Nach dem orthodoxen Weihnachtsfest konnten wir den Familien dringend benötigte materielle Hilfe wie Lebensmittelpakete oder Gutscheine sowie unsere neu erschienene Ratgeberbroschüre übergeben.
Sie haben das russlandweite Selbsthilfenetzwerk für Witwen angesprochen. Wie weit ist dessen Aufbau fortgeschritten?
Nina Rjabova: Momentan sind 13 Witwen in insgesamt neun Regionen als Ansprechpersonen tätig. Die Regionen sind Moskau und Moskauer Gebiet, St. Petersburg, Samara, Saratov, Jekaterinburg, das Gebiet Kostroma (mit zwei Gruppen – eine in der Hauptstadt Kostroma und eine in der Kleinstadt Manturovo), Voronezh und das Gebiet Kemerovo in Westsibirien. Insgesamt hatten wir im letzten Jahr 26 Anfragen. Nach den von uns periodisch durchgeführten Online-Trainings haben die jetzigen „Leader“, wie wir sie nennen, ihre Arbeit aufgenommen. Außerdem erhalten die Leiterinnen regelmäßig Supervision, insbesondere in Bezug auf fachlich schwierige Fragen oder psychologisch belastende Situationen.
Elena Lepeschonok: Nina Rjabova ist innerhalb unseres Teams die Koordinatorin des Witwen-Netzwerkes und schreibt regelmäßig Artikel für unser überregionales Online-Portal „Weiter leben“. Die Leiterinnen erstellen ein Profil in einem oder mehreren sozialen Netzwerken und vernetzen sich so mit den betroffenen Frauen vor Ort. Zudem stoßen Chatgruppen auf Messenger-Diensten auf riesige Nachfrage. Die zwei von Witwen geleiteten Chats haben je 70 Teilnehmende. Das ist das absolute Maximum. Das heißt, wir werden in Zukunft weitere Leiterinnen ausbilden, die bereit sind, einen ähnlichen Chat zu führen.
Auf welches Echo stößt die neue Ratgeberbroschüre für Witwen?
Elena Lepeschonok: Wir erhalten viel positives Feedback. Es traf sogar eine Rückmeldung von einer jungen Frau aus den USA ein, deren kürzlich verwitwete Mutter in Russland lebt. Gemäß ihren Worten sind die Hauptfragen in der Publikation so verständlich dargestellt, dass ihre Mutter viele Probleme selbständig habe lösen können. Von den gedruckten Broschüren haben wir bis heute in St. Petersburg 140 Exemplare verteilt und unseren regionalen Leiterinnen je zehn Exemplare geschickt. Von unserer Webseite haben über 100 Personen die elektronische Version heruntergeladen.
Auch 2021 wird für die Witwen und ihre Kinder ein schwieriges Jahr. Wie wird „Mit Rat und Tat“ sie unterstützen?
Alexandra Starostenko: Ich habe mich gemeinsam mit Elena Lepeschonok dazu entschlossen, verstärkt im Bereich der Hinterlassenenfürsorge zu arbeiten, weil ich selbst als Kind den Verlust meines Vaters erlebte. Einer meiner großen Träume ist die Realisierung eines Projekts für Waisen. Im vergangenen Oktober wurde durch den sog. Präsidentenfonds ein Wettbewerb für NGOs ausgeschrieben. Obwohl wir von der anstrengenden Arbeit erschöpft waren, schafften wir es, einen umfangreichen Unterstützungsantrag für ein Projekt für Kinder, deren Vater gestorben ist, einzureichen. Diese Woche nun haben wir die frohe Botschaft erhalten, dass unser Antrag bewilligt wird. Zusammen mit der Hilfe von G2W ist das eine wichtige Grundlage, die uns die Fortführung unserer Arbeit überhaupt erst ermöglicht.
Sie können die Arbeit der Witwenhilfe „Mit Rat und Tat“ mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Mit Rat und Tat“ unterstützen.
Bild: Elena Lepeschonok (rechts), Alexandra Starostenko (Mitte) und Kristina Ganschina, die eine Selbsthilfegruppe in Jekaterinburg leitet.