Attraktivität und Dilemma: Neue religiöse Bewegungen in Russland

Marat Shterin: Attraktivität und Dilemma: Neue religiöse Bewegungen in Russland

Im postsowjetischen Russland ist eine vielfältige Szene neuer religiöser Gruppen entstanden, auch wenn deren Anhängerzahl relativ gering geblieben ist. Von der Politik, der Russischen Orthodoxen Kirche und einer antikultischen Bewegung nach westlichem Vorbild werden die neuen religiösen Gruppierungen jedoch unter Druck gesetzt, so dass ihre Zukunft ungewiss ist. – S. K.

In der Geschichte der Religionen in Russland gibt es viele Beispiele von Nonkonformismus, Abweichung und Innovation: Man denke nur an die schismatischen Bewegungen innerhalb der russischen Orthodoxie (z. B. die Altgläubigen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts), Sekten wie die Duchoborzen („Geisteskämpfer“) im 18. Jahrhundert, die Chlysten („Geißler“, Ende des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) oder die Tolstojaner (seit Ende des 19. Jahrhunderts). Neben diesen organisierten Bewegungen dokumentierten Forscher des russischen Geisteslebens eine Vielzahl an magischen Glaubensformen und Bräuchen unter dem einfachen Volk1, eine weitverbreitete Tendenz zur Esoterik und zum Okkulten bei Intellektuellen, auch bei jenen mit einer formalen Verbindung zur Kirche, sowie verschiedene westliche Einflüsse beim Adel, vom Pietismus bis zum Freimaurertum2. Darüber hinaus herrschte unter den ethnischen Minderheiten Russlands ein hohes Maß an Einfallsreichtum und Nonkonformismus, so entstand der Chassidismus im 18. Jahrhundert in den jüdischen Siedlungen in der Ukraine. Auch der Dschadidismus fand als islamische Reformbewegung großen Anklang unter muslimischen Intellektuellen im ganzen späten Zarenreich.

Vor der Oktoberrevolution von 1917 diente die Orthodoxe Kirche dem Russischen Reich als vorherrschende, staatlich geschützte und kontrollierte geistliche Institution. Andere religiöse Gruppen wurden entweder „geduldet“, sofern sie innerhalb der Grenzen gewisser Ethnien wirkten (z. B. Islam, Judentum,, Buddhismus, Katholizismus, Luthertum), oder „verfolgt“, d. h. sie erfuhren eine starke rechtliche Einschränkung (z. B. die Altgläubigen und andere schismatische und sektiererische Bewegungen). Proselytismus unter orthodoxen ethnischen Russen und überhaupt die Bekehrung von Russisch-Orthodoxen zu anderen Religionen waren bis 1905 strafrechtlich verboten, als Zar Nikolaj II. unter dem Druck von Revolutionären das Toleranzedikt erließ.

Trotz offiziellem Atheismus und staatlich verordnetem Säkularismus blieb auch in der Sowjetunion die religiöse Vielfalt erhalten.3 Vor allem im Untergrund und im Halbuntergrund der 1970er und 1980er Jahre keimte in der gebildeteren städtischen Bevölkerung eine neue religiöse Szene. Viele dieser Menschen waren auf der Suche nach spirituellen und religiösen Alternativen zu der zunehmend trüben und stumpfen offiziellen Ideologie. Einige dieser Alternativen wurden von einer kreativen Aneignung des literarischen Symbolismus (z. B. in Michail Bulgakovs Meister und Margarita) ausgelöst. Andere wurden durch künstlerische und philosophische Ausdrucksformen russischer Emigranten entwickelt, die eine neue Bindung an ihr Land suchten. Besonders einflussreich war die in Gemälden und Essays ausgedrückte Fusion von orientalischen spirituellen Ideen und Motiven der russischen Folklore durch die Brüder Roerich. Tatsächlich konnten sich alle sowjetischen Bürger, die nach religiösen Alternativen suchten, von Ideen und Lehren aus inoffiziellen Quellen auf dem sowjetischen Kulturmarkt oder dem kulturellen Schwarzmarkt – seien es Pop-Opern (z. B. Jesus Christ Superstar), Bücher über westliche Esoterik oder selbst sowjetische atheistische Bücher, die Einblicke in eine nichtatheistische Welt ermöglichten4 – inspirieren lassen oder diese Ideen auch selbst schaffen.

Gleichzeitig gelang es Missionaren einiger westlicher Neuer Religiöser Bewegungen (NRB), u. a. der Internationalen Gesellschaft für Krischna-Bewusstsein (ISKCON), der Vereinigungskirche und der Scientology-Kirche, schon früh, von den Behörden unbemerkt eine Gefolgschaft in Russland aufzubauen. Immer, wenn sich die sowjetische Obrigkeit durch fremde und nichtsanktionierte religiöse Aktivitäten bedroht fühlte, griff sie jedoch zu Repressalien, oft in Form psychiatrischer Strafbehandlungen. Interessant ist, dass sich die Verfolgung von inoffiziellen Konfessionen selbst unter dem liberalisierenden Regime Michail Gorbatschows (1984–1991) fortsetzte, während etabliertere Religionen, vor allem die Russische Orthodoxe Kirche zunehmend Freiheit und Ansehen genossen.

Die postsowjetische neue religiöse Szene

Infolge der politischen und gesetzlichen Liberalisierung der frühen 1990er Jahren traten zahlreiche neue religiöse Gruppen zutage. Neben bereits etablierten entstanden neue, heimische Gruppen wie die Kirche des letzten Testaments, auch als Vissarion-Bewegung bekannt, das Muttergotteszentrum um F. Ioann Bereslavskij oder die vom Schriftsteller Vladimir Megre initiierte Anastasia-Bewegung.5 Heute gibt es Dutzende von russischen NRB von regionaler oder nationaler Bedeutung, einige haben sogar Anhänger über die Landesgrenzen hinaus. Ferner beziehen sich Gruppen, die oft als nationalpolitische Bewegungen angesehen werden, auf Glauben, Konzepte und Bräuche aus dem neuen religiösen Milieu. Neben verschiedenen eigentlichen Neopaganismus-Gruppen bedienten sich auch die Russische Nationale Einheit und insbesondere die eurasische Bewegung um Alexander Dugin vieler Ideen und Konzepte westlicher und indigener Quellen, u. a. des Gnostizismus, Integralismus und eines esoterisch inspirierten Faschismus.

Anfang der 1990er Jahre sahen neben „traditionellen“ Protestanten, Katholiken und Buddhisten auch viele transnationale NRB die Liberalisierung Russlands als vielversprechende Missionierungsgelegenheit. Einige konnten anfangs Erfolge verzeichnen: Die Workshops der Vereinigungskirche zogen Studenten namhafter Universitäten an, die Scientology-Kirche gründete Zentren in vielen russischen Städten und konnte sogar einige politische Kontakte aufbauen, und selbst Ōmu Shinrikyo gewann für das Projekt einer russisch-japanischen Universitätsgründung die Gunst eines russischen Vize-Ministerpräsidenten. Zwanzig Jahre später sind einige von ihnen noch immer erfolgreich (Scientology), während andere nur wenige Mitglieder haben (Vereinigungskirche). Ōmu Shinrikyo wurde nach einem Klageverfahren verboten.

Im Russland der 1990er Jahre erreichte nach meiner Einschätzung eigentlich keine NRB je mehr als 40 000 Anhänger. Wenn wir uns jedoch den „älteren“ NRB zuwenden, sehen die Zahlen anders aus: Vor allem bei den Zeugen Jehovas kann man von einer stabilen Mitgliedschaft von Zehntausenden Gläubigen sprechen.

NRB im gesetzlichen und gesellschaftlichen Wandel

Die Situation der neuen religiösen Minderheiten hat sich in Russland seit Anfang der 1990er Jahre verändert. Das Religionsfreiheitsgesetz von 1990, das schon vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion von den sowjetischen und russischen Parlamenten erlassen wurde, sicherte die Gleichheit aller Religionen ungeachtet ihrer Mitgliederzahl und der Dauer ihres Bestehens in Russland. Einschränkungen religiöser Aktivitäten wie Missionierung, Versammlungen, Bildung oder Veröffentlichungen konnten nur in Bezug auf die allgemeinen Gesetze Russlands erfolgen. Diese Prinzipien wurden in der Verfassung der Russischen Föderation von 1993 verankert. Die juristischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1990er Jahre, z. B. die Gründung des Verfassungsgerichtshofs und der höhere Stellenwert der Religionsfreiheit, boten den NRB vielfältige Möglichkeiten.

1997 aber verabschiedete die Staatsduma (das Unterhaus des Parlaments) ein neues Gesetz über Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen. Dieses basierte auf einem anderen konzeptuellen Zugang zur Religionsfreiheit und zur staatlichen Lenkung der konfessionellen Vielfalt Russlands zugunsten historisch stärker etablierter Religionen, vor allem der Russischen Orthodoxen Kirche. Ohne die Vorstellung einer „traditionellen Religion“ explizit zu erwähnen, erkennt die Präambel dieses Gesetzes die „besondere Rolle der Orthodoxie in der Geschichte Russlands“ an und drückt „Respekt“ vor „Christentum, Islam, Buddhismus, Judaismus und anderen Religionen, die einen festen Bestandteil des historischen Erbes der Völker Russlands darstellen“, aus. Mit anderen Worten: Das Gesetz von 1997 bevorzugt Religionen, die mit bestimmten in Russland lebenden ethnischen Gruppen verbunden sind. Zugleich gewährt es neueren Glaubensrichtungen, vor allem denjenigen ohne ethnisch-historische Wurzeln, weniger Bedeutung.

Während die Präambel keine direkt gesetzgebende Wirkung hat, führte das Gesetz ein juristisches Zweiklassensystem ein, das neue religiöse Vereinigungen benachteiligt. Insbesondere unterscheidet es zwischen „religiösen Organisationen“ und „religiösen Gruppen“ auf Basis der sog „15-Jahresregel“ und auf nationaler Ebene zentralisierter religiöser Strukturen. Gemeinschaften, die ihr 15-jähriges Bestehen im Land vor dem Zeitpunkt des Registrierungsantrags nachweisen können, oder die Bestandteil von zentralisierten Strukturen sind, gelten als „religiöse Organisationen“ und erhalten alle Rechte einer juristischen Person: sie dürfen Immobilien besitzen, Literatur veröffentlichen, Bildungsanstalten gründen, öffentliche religiöse Aktivitäten veranstalten usw. Im Gegensatz dazu werden neuere Gemeinschaften als „Gruppe“ klassifiziert, deren Glaubensfreiheit sich meist darauf beschränkt, religiösen Aktivitäten in privaten Versammlungen nachgehen zu dürfen.6

Seit der Jahrtausendwende betont das Regime um Präsident Putin zudem verstärkt seine Verwurzelung in der historischen russischen Staatlichkeit, was die Unterstützung von und Kooperation mit der Russischen Orthodoxen Kirche impliziert. Das Regime hat sich sehr bewusst auch der Unterstützung der Amtsträger der anderen „traditionellen Religionen“ Russlands, insbesondere des Islams, versichert. Gleichzeitig wurden „ausländische“ und neue Religionen von den Staatsmedien als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dargestellt, der durch die Bindung an „echte“ russische religiöse Traditionen aufrechtzuerhalten sei. Das nationale Sicherheitskonzept aus dem Jahr 2000 listet Missionierungsaktivitäten von ausländischen und nichttraditionellen Religionsgemeinschaften in der Kategorie „spirituelle Gefahren“ auf. Eine Reihe von Gesetzen wurde erlassen, um den Handlungsspielraum von Organisationen mit „ausländischen“ Verbindungen und unabhängigen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie NGOs einzuschränken. Vor allem das Gesetz zur Extremismusbekämpfung von 2002 (2006 geändert), das die legale Basis der Terrorbekämpfung stärken sollte, enthält einen sehr weit gefassten und unpräzisen Verweis auf „Anstiftung zur religiösen Zwietracht“ als extremistische Handlung und als Grund für gesetzliche Verbote und Anklage durch die Staatsanwaltschaft. Das Gesetz über nichtkommerzielle Organisationen von 2006 (auch als NGO-Gesetz bekannt) verlangt von Vereinigungen minutiöse und mühselige Regulierungsprozesse sowie Berichte über Auftrag, Führung, Finanzen und Aktivitäten.

Zusammen ermöglichen diese Regulierungen und Mechanismen eine Reihe von Maßnahmen für willkürliche Eingriffe in die Angelegenheiten religiöser Vereinigungen seitens staatlicher Organe. Angesichts ihrer relativen Unbekanntheit und geringen Popularität werden NRB sowie jüngere protestantische oder islamische Gruppen zu Zielen solcher Maßnahmen. Zum einen wird juristisch gegen neue Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas, Scientology, die Vereinigungskirche, ISKCON usw. vorgegangen, was sich in Verboten oder Einschränkungen ihrer Aktivitäten auf nationaler oder lokaler Ebene, der Aberkennung ihres Status als religiöse Organisation, Publikationsverboten usw. äußert.7 Zum anderen führten Sicherheitsdienste und Polizei Hunderte von Razzien bei NRB durch, wodurch religiöse Versammlungen gestört wurden. Ziel solcher Aktionen waren vor allem die Zeugen Jehovas. Oft warnten Ministerien vor von Kulten ausgehenden „Gefahren“ und führten gewisse NRB trotz ihres nach russischem Gesetz legalen Status als Beispiele hierfür an. Einige Ministerien haben sogar Abkommen mit der Russischen Orthodoxen Kirche abgeschlossen, die u. a. Kooperationsklauseln für die Bekämpfung von „Kulten“ und „Sekten“ enthalten.

Gesellschaftliche Gegner der NRB

Für die meisten Russen gehören NRB nicht zum gesellschaftlichen Alltag; ihre Wahrnehmung wird größtenteils vom Fernsehen oder zunehmend vom Internet geprägt. Diese Medien verbreiten wiederum Bilder und Ideen, die von Akteuren mit einem besonderen Interesse an der Bekämpfung von „Kulten“ und „Sekten“ beeinflusst sind. Diese Konzepte wurden von Antikult-Gruppen und ihren Verbündeten verbreitet.

Entgegen der landläufigen Meinung war die Dominanz der russischen Orthodoxie als religiöse Tradition kaum ein entscheidender Faktor für die gesellschaftliche Wahrnehmung der NRB, als diese in den 1990er Jahren in das öffentliche Bewusstsein traten. Vielmehr bezogen sich die ersten Gruppen, die NRB ablehnten, fast ausschließlich auf westliche antikultische Konzepte.8 Alexander Dvorkin, ein russischer Emigrant aus den USA, nutzte Materialien aus Antikult-Kreisen in den USA (Cult Awareness Network CAN), Dänemark (Dialogue Centre) und Deutschland (Pastor Thomas Gandow). Als zum orthodoxen Christentum konvertierter Jude kehrte er Anfang der 1990er Jahre nach Russland zurück und behauptete, Experte für Kultbekämpfung zu sein. Unterstützung erhielt er von einigen Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche, die sich aufgrund des „Sektenproblems“ sorgten, das das Land und die Kirche befallen zu haben schien. Daraufhin begann Dvorkin, das Repertoire der grundlegenden westlichen antikultischen Konzepte wie „Gehirnwäsche“ und „Bewusstseinskontrolle“ zu propagieren.

Dvorkin gründete ein Netzwerk von Antikult-Zentren und Aktivisten in Russland, das durch regelmäßige Kongresse, Vorlesungen und die Beratung von regionalen und föderalen Funktionären die Vorstellungen einer allgemeinen Gefahr „totalitärer Sekten“ verbreitete – eine russische Adaption des populären westlichen Konzepts des „destruktiven Kults“. Dieses Netzwerk liefert die „Experten“ für Gerichtsverfahren gegen NRB: Dvorkin selbst ist Vorsitzender eines Ausschusses von Religionsexperten innerhalb des russischen Justizministeriums, dessen Minister Alexander Konovalov Dvorkins Kurse über Sekten an einem Moskauer Theologieinstitut besuchte. Durch die Person Dvorkins sind die russischen Antikult-Aktivisten mit ihren westlichen Kollegen verbunden, deren Unterstützung bei der Propagierung und Legitimierung der Agenda der Sektengegner Anfang der 1990er Jahre eine zentrale Rolle spielte.

Zweifelsohne prägten auch dramatische Ereignisse und Medienberichte in Verbindung mit „Kulten“ die Wahrnehmung der NRB in Russland. Dies geschah vor allem Anfang der 1990er Jahre – genau dann, als sich die NRB im Land stark ausbreiteten. So wurden die Nachrichten von Massensuizid und Tötungen bei den Branch Davidians 1993 in Texas oder bei Heaven’s Gate 1997 in San Diego mit dem Versuch der ukrainisch-russischen Gruppe Große Weiße Bruderschaft, ein Endzeitereignis in Kiew zu veranstalten, gleichgesetzt. Zudem wurden sie mit Enthüllungen asozialen oder kriminellen Verhaltens innerhalb einer geringen Zahl von indigenen russischen NRB in Verbindung gebracht. Aus der antikultischen Perspektive stellten all diese Ereignisse Beispiele einer „Kultepidemie“ in Russland dar.

Ungeachtet westlicher Einflüsse konnte der russische Antikultismus natürlich nur mit Unterstützung der dominierenden Russischen Orthodoxen Kirche zu Prominenz und Einfluss in Funktionärskreisen gelangen. Die Kirche hat ihre Ablehnung gegenüber den „Sekten“ systematisch geäußert und in einer Reihe von öffentlichen Erklärungen die mit diesen verbundenen Gefahren für das Individuum und die Gesellschaft betont. Heute verfügen viele ihrer Eparchien über Zentren, die sich mit „Sekten“ auseinandersetzen und „Rehabilitationsprogramme“ für deren „Opfer“ anbieten. Schließlich nutzte die Russische Orthodoxe Kirche auch ihren Einfluss, um das antikultische Programm auf die Stufe der legislativen und politischen Angelegenheiten zu heben.

Eine unvollendete Geschichte

Die neue religiöse Szene in Russland bleibt in ihrer Vielfalt und manchmal in ihrer Sichtbarkeit lebendig, auch wenn die Gesamtzahl der engagierten Anhänger relativ gering ist. Um ihre Rechte zu verteidigen, haben sich russische NRB die Möglichkeiten des postsowjetischen Rechtssystems zunutze gemacht, obwohl die Gerichte zunehmend seltener zu ihren Gunsten entscheiden. In einigen Fällen konnten sich NRB etwas Unterstützung von lokalen zivilgesellschaftlichen Akteuren sichern, z. B. als die Tomsker Staatsanwaltschaft aufgrund von vermeintlichem Extremismus ein Verbot der Bhagavad-Gita forderte. Untypisch für Russland wurde die Klage von einem Stadtgericht abgelehnt. Zweifelsohne war hier die Unterstützung seitens der indischen Regierung für ISCKON ein Faktor. In bestimmten Fällen, wie bei den Zeugen Jehovas, der Scientology-Kirche und der Vereinigungskirche, haben sich NRB erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Urteile russischer Gerichte gewehrt. Allerdings verfügen nur sehr wenige NRB über die nötigen juristischen, materiellen und personellen Mittel, um ihre Rechte auf diese Weise zu verteidigen. Obwohl die Anziehungskraft alternativer religiöser Bewegungen in Russland zweifellos fortbestehen wird, werden die Perspektiven für bestimmte NRB letztlich von den weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes abhängen.

Anmerkungen

1)   Ryan, William: The Bathhouse at Midnight: An Historical Survey of Magic and Divination in Russia. University Park 1999.

2)  Rosenthal, Bernice (ed.): The Occult in Russian and Soviet Culture. Ithaca/London 1997.

3)  Fagan, Geraldine: Believing in Russia: Religious Policy after Communism. London/New York 2013.

4)  Belyaev, Demyan: Heterodox Religousness. In: Today’s Russia: Results of an Empirical Study. Social Compass 58, 3 (2000), S. 1–20.

5)  Shterin, Marat: New Religious Movements in Changing Russia. In: Hammer, Olav; Rothstein, Mikael (eds.): The Cambridge Companion to New Religious Movements. Cambridge 2013. S. 286–302.

6)  Durham, Cole; Homer, Lauren: Russia’s 1997 Law on Freedom of Conscience and Religious Associations. In: Emory Law Review 101 (1998), S. 101–246.

7)  http://www.sova-center.ru/en

8)  Shterin, Marat; Richardson, James: Effects of the Western Anti-Cult Movement on Development of Laws Concerning Religion in Post-Communist Russia. In: Journal of Church and State 42 (2000), S. 247–272.

 

Übersetzung aus dem Englischen: John Heath.

Marat Shterin, PhD, Dozent für Religionssoziologie am King’s College London.

 

pdfRGOW 2/2016, S. 9-11