Evangelische Christen in den jugoslawischen Nachfolgestaaten
Luka Ilić und Angela Ilić
In Kroatien, Serbien und Slowenien stellen die Kirchen der Reformation kleine Minderheitenkirchen dar. Ihre Zentren liegen auf dem Land und sind oftmals mit bestimmten nationalen Minderheiten verbunden. Ein übergreifendes evangelisches Zusammengehörigkeitsgefühl fehlt weitgehend, die Kontakte zu evangelischen Kirchen in Europa werden jedoch gepflegt. – N. Z.
„Ich bin Kroate und ich bin evangelisch.“ – Eine solche eher ungewöhnliche Selbstidentifizierung löst – unter Einheimischen wie unter ausländischen Touristen – die unterschiedlichsten Reaktionen von Skepsis bis Bewunderung aus. Diese Kombination kommt so selten vor, dass sie den Hörer komplett überrascht. Denn der Anteil aller Protestanten im Land beträgt weniger als ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch in den beiden anderen jugoslawischen Nachfolgestaaten, in denen der Protestantismus geographisch und zahlenmäßig am weitesten verbreitet war – in Serbien und Slowenien –, machen evangelische Christen heute jeweils nur ca. ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Unterschiedliche Milieus
In der Region lassen sich zwei unterschiedliche gesellschaftliche Milieus der historischen evangelischen Kirchen – der lutherischen und reformierten (calvinistischen) – identifizieren, die die Selbstwahrnehmung der Gläubigen beeinflussen: Dorf- und Stadtleben. Das Leben in den Dörfern blieb – trotz drastischer Veränderungen im letzten Jahrhundert – relativ stabil. Die durch die Kolonisierung der südlichen Grenzgebiete des damaligen Habsburgerreiches ab Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Dörfer sind auch heute noch ethnisch und oft konfessionell deutlich homogener als städtische Räume. An manchen Orten bilden evangelische Christen immer noch die relative oder absolute Mehrheit. Aufgrund des niedrigen Bevölkerungswachstums, der zunehmenden Abwanderung in die Städte, der Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung sowie des Zuzugs von Flüchtlingen aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens in mehreren Wellen seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die ursprünglich homogene Zusammensetzung vieler Dörfer und Kleinstädte jedoch radikal geändert. Trotzdem sind einige evangelische „Inseln“ erhalten geblieben, wie z. B. Stara Moravica (ungarisch Bácskossuthfalva) für die ethnisch ungarischen Reformierten oder Bački Petrovac (slowakisch Báčsky Petrovec) sowie Padina für die ethnisch slowakischen Lutheraner – alle in der Vojvodina gelegen; oder Puconci im Übermurgebiet (slowenisch Prekmurje) für die slowenischen Lutheraner. In diesen politischen Gemeinden bilden Evangelische die Mehrheit und haben zahlenmäßig große Kirchgemeinden, die gleichzeitig auch von großer symbolischer Bedeutung sind und das Gefühl eines homogenen Milieus verstärken.
In den größeren urbanen Zentern, besonders in den Hauptstädten Belgrad, Ljubljana und Zagreb, waren die Evangelischen dagegen immer in der Diaspora; dort stellen sie auch heute nur eine kleine Minderheit dar. Obwohl die dortigen Kirchgemeinden auf eine lange Geschichte zurückblicken können, besteht oft keine Kontinuität mit den ehemaligen Gemeinden, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs deutschsprachig waren. Nach dem Krieg erlebten die Gemeinden eine dramatische demografische Veränderung und wurden durch den Zuzug von Gläubigen aus den Dörfern erneuert: So kamen Evangelische aus Prekmurje nach Ljubljana, oder aus der Vojvodina nach Belgrad. Sie brachten unterschiedliche Erfahrungen, Erwartungen und Traditionen aus ihren Heimatgemeinden mit und häufig blieb die Selbstidentifizierung mit dem jeweiligen Herkunftsort weiterhin maßgebend. Die städtischen Kirchgemeinden – auch in den mittelgroßen Städten wie Maribor, Novi Sad, Osijek oder Subotica – sind oft deutlich kleiner als die Dorfgemeinden, und aufgrund ihrer heterogenen demographischen Zusammensetzung ist es manchmal schwierig, eine gemeinsame Identität und Zusammenhalt in der Gemeinde zu finden. Für die Gemeinden in den Hauptstädten gilt zudem, dass sie außerhalb der von Protestanten dichter besiedelten Regionen und damit an der Peripherie der jeweiligen konfessionell stärker beeinflussten Gebiete liegen.
Fragmentierte Identitäten
Bei den Evangelischen lassen sich drei Säulen der Selbstidentifikation ausmachen: ethnisch/sprachlich, konfessionell sowie staatlich. In Serbien gehören fast ausschließlich Angehörige ethnischer Minderheiten (Slowaken und Ungarn) zu den traditionellen evangelischen Kirchen und diese benutzen dementsprechend die jeweilige Minderheitensprache. Dagegen wirken in Kroatien und in Slowenien die lutherischen Kirchen überwiegend in der Landessprache, und auch unter den Reformierten in Kroatien gibt es eine kroatisch-sprachige Kirche – neben der slowakischen (in Kroatien) und ungarischen (in Kroatien und Slowenien) Minderheit. Die Differenzierung entlang ethnischer und sprachlicher Grenzen scheint manchmal stärker als ein konfessionelles Zusammengehörigkeitsgefühl zu sein: So wird z. B. eine ungarische Reformierte in der Vojvodina viel mehr mit ungarischen Katholiken als mit slowakischen Lutheranern gemeinsam haben – obwohl beide zum Protestantismus gehören und Glaubensgenossen sind. Die Selbstidentifizierung mit dem Staat spielt dabei eher eine untergeordnete Rolle, ganz im Gegensatz zu neoprotestantischen Gruppen wie Baptisten, Adventisten oder Pfingstgemeinden, die sich viel mehr staatlich und nicht ethnisch identifizieren.
Eine konfessionelle Kohäsion lässt sich auf höheren Ebenen nicht feststellen, und man kann kaum über eine einheitliche evangelische Identität, die über die heutigen Staatsgrenzen hinausgeht, sprechen. Höchstens lassen sich in den historischen Siedlungsgebieten der Protestanten, darunter in Prekmurje, Baranja oder Bačka, regionale Identitäten feststellen. Deshalb sind die Evangelischen in den meisten jugoslawischen Nachfolgestaaten allgemein gesellschaftlich wenig sichtbar. Eine bekannte Ausnahme bildet die Evangelisch-Methodistische Kirche in Makedonien, die aufgrund des ehemaligen Staatspräsidenten Boris Trajkovski (1956–2004), der Methodist war, erhöhte Erkennbarkeit in der makedonischen Gesellschaft erfuhr.
Das Erbe der Geschichte hat das Leben der evangelischen – besonders der lutherischen – Kirchen im sozialistischen Jugoslawien wie in der Gegenwart erschwert: Aufgrund der historischen Verbindung zu den deutschen Protestanten, die wiederum alle als Anhänger des Nationalsozialismus betrachtet wurden, begegnete man den Kirchen vielfach mit Misstrauen. In der Zwischenkriegszeit lebte eine halbe Million Deutsche in Jugoslawien, viele von ihnen waren evangelisch. Ihr Schicksal, das in Titos Land als Tabuthema galt, ist bis heute in den jugoslawischen Nachfolgstaaten kaum aufgearbeitet. Vielmehr herrscht in der Bevölkerung Unwissen über die Protestanten. Auch die offizielle Anerkennung, wodurch die traditionellen protestantischen Gemeinden in Slowenien, Kroatien und Serbien zu den vom Staat anerkannten historischen Kirchen und Religionsgemeinschaften gehören, hat dieses Phänomen nicht entkräftet.
Die Rückgabe von Kircheneigentum, das vom sozialistischen Regime enteignet oder nationalisiert worden war, hat die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Kirchen in den letzten Jahrzehnten erneut kompliziert und nicht selten zu Konflikten geführt. In Serbien z. B. ist unter den Lutheranern immer noch umstritten, wer als Rechtsnachfolger der ehemaligen deutschen evangelischen Kirchgemeinden gilt und dadurch Rechtsanspruch auf ihre Kirchengebäude und andere Immobilien hat. In der evangelisch-lutherischen Kirche in Kroatien kam es u. a. wegen finanzieller und Personalentscheidungen zu innerkirchlichen Konflikten, die zum Einfrieren der Partnerschaft des Gustav-Adolf-Werks mit dieser Kirche geführt haben. Deshalb werden vorläufig keine Projekte unterstützt. Auch der Lutherische Weltbund hat sich nach wiederholten Bemühungen zur Versöhnung der streitenden Parteien von der Kirche distanziert.
Internationale Vernetzung und Partnerschaften mit Kirchen im Ausland sind allgemein sehr wichtig für die evangelischen Kirchen im ehemaligen Jugoslawien, denn neben symbolischer und materieller Unterstützung ermöglichen sie eine Einordnung in die europa- oder weltweite protestantische Familie.
Die Intensität der ökumenischen Zusammenarbeit ist von Ort zu Ort unterschiedlich und wird stark von den lokalen Mehrheit-Minderheitsverhältnissen beeinflusst. So lässt sich ein viel größeres Interesse an gelebter Ökumene mit den Protestanten seitens der römisch-katholischen Kirche in Serbien erkennen, wo letztere ebenfalls eine Minderheitenkirche ist, als in Kroatien, wo sich 86,3 Prozent der Bevölkerung zur katholischen Kirche bekennen. Umgekehrt gilt dies auch für die Serbische Orthodoxe Kirche.
Soziales Engagement gehört untrennbar zum Evangelisch-Sein und dies wird von zahlreichen diakonischen Initiativen der Kirchen in der Region bezeugt. Die Hilfsorganisationen der Kirchen spielen eine wichtige Rolle und übernehmen Aufgaben, die die schwachen staatlichen Systeme nicht erfüllen können. Die evangelischen Kirchen sind weit über ihren prozentuellen Anteil an der Bevölkerung hinaus in diesem Bereich aktiv, was auch für die meisten neoprotestantischen Kirchen gilt. Ein positives Beispiel ist die Vojvodina, wo zwei evangelisch-lutherische Kirchen, eine reformierte Kirche, die evangelisch-methodistische Kirche sowie die griechisch-katholische Kirche im Rahmen der Ökumenischen Humanitären Organisation (EHO) gemeinsam tätig sind. Auch in Slowenien führt die evangelisch-lutherische Kirche ein eigenes Hilfswerk (Podpornica). Zum Teil sind die Kirchen durch ihre diakonischen Dienste mit Partnerkirchen im Ausland verbunden, die diese Arbeit finanziell oder materiell unterstützen.
Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017
Die Verpflichtung, die reformatorischen Traditionen weiter zu pflegen, ist für die Gläubigen selbstverständlich – auch wenn sie häufig ein Gemisch von konfessionellen, kulturellen und ethnischen Elementen darstellen. So spielen z. B. Kirchweihfeste in der Vojvodina eine große Rolle, wie auch die kirchlichen Partnerschaften mit Kirchgemeinden in der Slowakei oder in Ungarn, von wo die Aussiedler im 18. oder 19. Jahrhundert ursprünglich herkamen.
Im Gegensatz zur Vojvodina können einige Regionen in Slowenien und Kroatien auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten der protestantischen Reformation im 16. Jahrhundert zurückblicken. Für die evangelisch-lutherische Kirche in Slowenien verkörpert Primož Trubar (Primus Truber, 1508–1586) das lutherische Erbe; seine Anziehungskraft ist allerdings wegen seiner vielfältigen Tätigkeiten als Spracherneuerer, Übersetzer und Kirchenorganisator viel breiter. Teilweise wird er deshalb in der slowenischen Gesellschaft vom Protestantismus abgetrennt. Die evangelisch-lutherische Kirche hingegen wird Trubar bei ihren Veranstaltungen im Reformationsjubiläumsjahr bewusst als zentrale Figur darstellen, und wird eine internationale Tagung an Trubars Geburtstag am 8. Juni 2017 veranstalten. Darüber hinaus gibt es im Übermurgebiet regional verehrte Helden des Protestantismus wie György Kultsár († 1577), Franc Temlin oder Števan Küzmič (ca. 1723–1799). Ljubljana und Puconci liegen auf dem „Europäischen Stationenweg“, der von Genf durch verschiedene Reformationsstädte nach Wittenberg führt. In Kroatien, besonders in Istrien, ist der aus Labin stammende lutherische Theologe, Kirchenhistoriker und Linguist Matija Vlačić Ilirik (Matthias Flacius Illyricus, 1520–1575) bekannt. Flacius’ Geburtsort wurde von der internationalen Plattform Refo500 in die Liste der Städte der Reformation aufgenommen und die protestantische theologische Fakultät in Zagreb trägt seinen Namen, obwohl dort kein lutherischer oder reformierter Theologe als Lehrkraft tätig ist. Regional weitere bedeutende Reformatoren sind der aus Buzet stammende Stephan Konsul (1521–1579/80?), der 1562/63 das Neue Testament ins Kroatische übersetzte, und Anton Dalmata (†1579).
Trotz ihrer Fragmentierung und mehrschichtigen Identitäten findet man in den jugoslawischen Nachfolgestaaten lebendige und konfessionell starke evangelische Gemeinden. Der geistliche und kirchenorganisatorische Schwerpunkt liegt weiterhin in den kleinen Orten der traditionell von Protestanten besiedelten Gebiete. Die evangelischen Christen heute verorten sich aber nicht nur in der religiösen und politischen Landschaft vor Ort, sondern auch im europäischen und internationalen Kontext.
Luka Ilić, Dr., Historiker und evangelischer Theologe.
Angela Ilić, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Kultur und Geschichte in Südosteuropa an der Ludwig-Maximilians-Universität München.