Die gegenwärtige Situation der ukrainischen Orthodoxie
Sergii Bortnyk
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine sind die Spaltungen innerhalb der ukrainischen Orthodoxie nochmals deutlicher geworden. Der Staat fordert von den Kirchen eindeutige Loyalität. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat steht dabei häufig im Verdacht, ein verlängerter Arm Moskaus zu sein. Einerseits sieht sie sich mit Gesetzesentwürfen konfrontiert, die ihren Einfluss schwächen sollen, andererseits wird ihr Einsatz für den Austausch von Kriegsgefangenen geschätzt. – R. Z.
Wie viele andere osteuropäische Länder gilt die Ukraine als ein traditionell orthodoxes Land, dessen Geschichte und Kultur vom östlichen Christentum geprägt ist. Das bezeugt auch die Statistik, da heutzutage 55 Prozent aller religiösen Gemeinden des Landes zum orthodoxen Christentum gehören.1 Dennoch erlaubt die Gemeindestatistik keine eindeutigen Einschätzungen, da die Anzahl Menschen, die sich dieser oder jener Konfession zuzählen, eine deutlich anderes Bild zeichnet: So machen die ukrainische Protestanten, die in westlicher Terminologie zu den „Freikirchen“ zählen (vor allem Baptisten, Pfingstler und Adventisten) insgesamt nur bis 3 Prozent der Bevölkerung aus, doch stellen sie 27 Prozent der Gesamtzahl religiöser Gemeinden in der Ukraine.2
Zudem, und das ist gerade im Bereich der ukrainischen Orthodoxie aktuell, kennen die orthodoxen Gemeinden kaum den Status einer offiziellen Mitgliedschaft. Das führt dazu, dass soziologische Umfragen vor dem Hintergrund des politischen Konflikts in der Ostukraine politisch motivierte Antworte bekommen: Sie zeigen bei den „patriotischen“ Konfessionen deutlich höhere Mitgliederzahlen, vor allem bei denjenigen, die keine Verbindung zum „Moskauer Patriarchat“ haben. Außerdem gibt es in der Ukraine fünf kirchliche Gruppierungen, die sich in ihrem Titel als „russisch-orthodox“ bezeichnen. Sie sind jedoch winzig, eher Sekten, die aber insgesamt 141 registrierte Gemeinden, d. h. etwa 0,7 Prozent aller orthodoxen Gemeinden des Landes ausmachen. Das größte Problem jedoch, das seit 25 Jahren existiert, ist die Spaltung innerhalb der „ukrainischen“ Orthodoxie.
Die Kirchen der ukrainischen Orthodoxie
Die größte religiöse Struktur des Landes trägt den offiziellen Titel „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ (UOK–MP). Sie steht in Verbindung zum Moskauer Patriarchat und ist von der Weltorthodoxie als sog. „kanonische Kirche“ anerkannt. Die zweite größte Struktur heißt „Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kiewer Patriarchat“ (UOK–KP) und positioniert sich als dem ukrainischen Staat nahe stehende Konfession. Ihre kanonische Anerkennung wird von vielen gewünscht, ist aber in näherer Zukunft kaum realistisch. Sie steht nicht auf der Liste der anerkannten orthodoxen Lokalkirchen, und die Prozedur der Anerkennung neuer administrativ unabhängiger (d. h. „autokephaler“) Kirchen ist für die Weltorthodoxie eine allgemein schwer zu lösende Frage.
Das wurde auch im Rahmen des „Heiligen und Großen Konzils der Orthodoxen Kirche“ deutlich, das im Juni 2016 auf Kreta stattfand.3 Obwohl die Frage der Autokephalie bereits seit längerem behandelt wird, hat das Konzil kein Dokument dazu veröffentlicht, da die unterschiedlichen Einstellungen zu dieser Frage sehr politisiert und umstritten sind.4 Für die Ukraine bedeutet das, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche weiterhin zum Moskauer Patriarchat gehören soll, oder dass in der Ukraine eine neue parallele Struktur entsteht, die zum Ökumenischen Patriachat von Konstantinopel gehören wird (s. RGOW 11/2016, S. 17–19).
Gemäß der bereits erwähnten Statistik verfügen die UOK–MP über 12 000 und die UOK–KP über 5 000 registrierte Kirchengemeinden. Hinzu kommt die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) mit offiziell über 1 000 Gemeinden. Alle drei zusammen stellen über 98,7 Prozent aller orthodoxen Gemeinden des Landes, und ihre Beziehungen untereinander bestimmen das Bild, das die ukrainische Orthodoxie nach außen von sich zeigt. Am schwierigsten sind die Beziehungen zwischen der UOK–MP und der UOK–KP. Für viele hängt dies mit der Person des Leiters der UOK–KP zusammen, der heutzutage gewöhnlich „Patriarch Filaret“ (Denisenko) genannt wird. Von 1966 bis 1991 war er innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche Metropolit von Kiew und war jahrelang der ideologischen Linie des sowjetischen Staates treu. Nach der Wende und der Unabhängigkeit der Ukraine änderte er seine ideologische Position radikal: Wollte er bis dato die ukrainische Wurzel in der Kultur und im kirchlichen Leben ausrotten, so formulierte er jetzt den Slogan „Für den unabhängigen Staat eine unabhängige Kirche“.
Sein Gegenüber, der von 1992 bis zu seinem Tod im Jahr 2014 die UOK–MP leitete, war Metropolit Volodymyr (Sabodan) (s. RGOW 8/2014, S. 3). Er war ethnischer Ukrainer mit ukrainischer Muttersprache und verbrachte mehrere Jahrzehnte im kirchlichen Dienst auf verschiedenen Positionen außerhalb der Ukraine – in Russland und in Westeuropa. In seiner „ukrainischen Politik“ stand nicht so sehr die Frage der Kooperation mit dem Staat im Zentrum, vielmehr ging es ihm darum, die kirchliche Identität in verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einzubringen. Er war der Meinung, dass die Trennung zwischen den beiden Staaten und Völkern der Ukraine und Russland aufgrund der langen gemeinsamen Geschichte allmählich und möglichst schmerzlos ablaufen sollte. Die Kirche sollte sich seiner Ansicht weniger in die staatliche Politik einmischen, sondern als „Seele des Volkes“ dienen.
Die Spaltung zwischen diesen beiden kirchlichen Strukturen – der UOK–MP und der UOK–KP – zeigt sich auch in der Absage der eucharistischen Gemeinschaft. Der Konflikt ist schon viel älter als die gegenwärtige politische Krise und dauert nun schon seit über 25 Jahren an. Im Februar 1997 verschärfte sich die Situation, als das Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) über Patriarch Filaret aufgrund seiner „anti-kirchlichen Tätigkeit“ das Anathema, d. h. den Kirchenbann, verhängte.
Beim letzten Bischofskonzil der ROK kam allerdings Bewegung in die Frage des ukrainischen Schismas: Am 30. November 2017 wurde ein „Aufruf des ehemaligen Metropoliten Filaret“ zur Versöhnung verlesen und besprochen. Das Konzil traf die Entscheidung, für die Suche nach einer möglichen Lösung eine Kommission zu gründen (s. RGOW 1/2018, S. 8).5 Obwohl diese Entscheidung von mehreren Hierarchen und Gläubigen positiv bewertet wurde, gibt es bis jetzt keine merkliche Fortsetzung des Prozesses. Auch hat das „Kiewer Patriarchat“ keine eigene Kommission für den Dialog gegründet.
Seit über 20 Jahren besteht die Position der UOK–MP darin, die Haltung des Kiewer Patriarchats als nationalistisch zu verurteilen, was mit dem griechischen Begriff „Ethnophiletismus“ zum Ausdruck gebracht wird. Das zeige sich in der Bekämpfung russischer Merkmale in der kirchlichen Struktur der Ukraine. Oft hört man die Meinung, dass das „Kiewer Patriarchat“ eine politisierte Struktur sei, die eigene politische Ziele – wie die von Moskau unabhängige Existenz – höher stelle als die eigentlichen christlichen Tugenden des Gebets und der Frömmigkeit. Die Vorwürfe aus der Gegenrichtung – seitens des Kiewer Patriarchats – bestehen darin, dass die UOK–MP eigentlich eine „russische Kirche in der Ukraine“ sei. Sie sei eine Filiale des Moskauer Patriarchats, die ihren Einfluss durch die Ideologie der „Russischen Welt“ auszuweiten strebe.
Verschärfte Spannungen seit 2014
Hier besteht ein deutlicher Unterschied, was die Identität beider Kirchen betrifft. Die Sprecher der UOK–MP betonen, dass ihre Kirche gleich wie die ukrainische Gesellschaft „zwei Lungen“ hat. Während in der Westukraine oft pro-europäische und eigentlich „ukrainische“ Stimmungen vorherrschen, bleibt in der Ostukraine die pro-russische Identität wichtig, mit dem Russischen als Umgangssprache, mit Verwandten in Russland und mit der Nostalgie nach den „besseren Zeiten“ der späteren Sowjetunion. Soziologische Umfragen zeigen, dass die „russische“ Komponente für die Bevölkerung der Ukraine wichtig ist. Über 12 Prozent fühlen sich „zwei oder mehreren nationalen Identitäten“ zugehörig, über 23 Prozent sprechen hauptsächlich bzw. meistens Russisch.6
Dieselbe Umfrage beschreibt auch das Vertrauen zu verschiedenen sozialen Institutionen. Hier genießt die abstrakte „Kirche“ viel mehr Vertrauen seitens der Bevölkerung als die staatlichen Institutionen, das Parlament und die Regierung. Fast zwei Drittel der Menschen vertrauen der Kirche „ganz“ (22,1 Prozent) bzw. „eher“ (43,6 Prozent) (ohne konkrete Unterscheidung welcher der verschiedenen Kirchen). Gleichzeitig beträgt das Vertrauen zu der Regierung insgesamt nur knapp 13 Prozent und zum Parlament ca. 10 Prozent.7 Diese Zahlen sprechen für sich selbst, und daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Menschen der Kirche umso weniger vertrauen werden, je näher sie zum Staat und zu seinen Institutionen steht. Und umgekehrt: Solange die Kirche sich vom Staat distanziert und ihre Verantwortung in einem eigenen Bereich wahrnimmt, desto besser ist dies für ihr Ansehen in den Augen der Bevölkerung.
Gerade hier beginnen aber die Probleme, da der Staat angesichts der Krisensituation in der Ostukraine versucht, die Kirche zu instrumentalisieren. Vertreter der staatlichen Institution wollen, dass die ukrainischen Kirchen den Staat in seiner Abwehr russischer Einflüsse eindeutig und mit aller Kraft unterstützen. Hier kann man die Position der UOK–MP anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen: Am 8. Mai 2015 wurde der 70. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Im ukrainischen Parlament wurden die Namen der „Helden der Ukraine“ vorgelesen. Als alle Anwesenden ihren Respekt durch Aufstehen bekundeten, verzichteten das Oberhaupt der UOK–MP, Metropolit Onufrij (Beresovskij), wie auch zwei andere Hierarchen dieser Kirche darauf, sich zu erheben. Von vielen wurde dies als mangelnde Achtung vor den Verteidigern des Landes wahrgenommen. In einer Erklärung danach erläuterte der Metropolit, dass er die Heldentaten zwar schätze, das Sitzenbleiben jedoch für ihn „ein Zeichen des Protests gegen den Krieg als [soziales] Phänomen war“. Er fuhr fort: „Wir wollen nicht, dass die Menschen sich gegenseitig umbringen.“8 Abgesehen von dieser pazifistischen Einstellung gibt es auch mehrere Beispiele, dass sich einzelne Priester der UOK–MP im Rahmen des militärischen Konflikts der offiziellen staatlichen Position entgegenstellten. Das führte zu einer verschärften negativen Darstellung dieser Kirche in den Medien.
Die negative öffentliche Einstellung gegenüber der UOK–MP führte auch dazu, dass einzelne Kirchengemeinden vom Moskauer Patriarchat zum Kiewer Patriarchat wechselten. Oft geschah das auf Drängen der außerkirchlichen nationalistischen Strukturen und mit deren militärischer Unterstützung. Bis Anfang 2018 spricht man von 40 bis 50 „Übertritten“, die nur teilweise freiwillig und gesetzlich rechtens waren. All diesen Fällen gemeinsam ist der Versuch, eine eindeutige Trennlinie zwischen dem ukrainischen und dem russischen Segment der ukrainischen Bevölkerung zu ziehen.
Im Laufe der letzten beiden Jahre gab es zudem einige Gesetzesinitiativen, die sich gezielt gegen den vermeintlichen Einfluss der UOK–MP richten. Am bekanntesten ist das Gesetzprojekt Nr. 4511 „Über den Sonderstatus religiöser Organisationen, deren leitende Zentren sich in einem Staat befinden, der vom Parlament der Ukraine als Aggressor-Staat anerkannt ist“.9 Dieses Projekt wurde im April 2016 vorgestellt, bis jetzt wurde aber darüber noch nicht abgestimmt. Nicht weniger gefährlich für eine stabile interkonfessionelle Existenz der Ukraine ist auch das Gesetzprojekt Nr. 4128 „Über den Wechsel der Zugehörigkeit der religiösen Kirchengemeinden“. Das Oberhaupt der UOK–MP, Metropolit Onufrij, spricht hier von „kirchlichen Übergriffen seitens radikaler Gruppierungen in Gestalt des Wechsels der konfessionellen Zugehörigkeit“ (s. RGOW 10/2017, S. 6).10 Diese und andere Gesetzesinitiativen nötigten die UOK–MP dazu, ihre Position auf gesetzlicher Ebene zu verteidigen und das eigene Verhältnis zum Moskauer Patriarchat deutlicher zu formulieren. Auf Bitten der ukrainischen Vertreter nahm deshalb das Bischofskonzil der ROK im November 2017 Änderungen am Kirchenstatut vor. Demnach verfügt die UOK–MP über mehr Rechte, und laut der neuen Formulierung „befindet sich ihr leitendes Zentrum in Kiew“ (s. RGOW 1/2018, S. 6).11
Neben der verschärften Konfrontation zwischen den beiden größten orthodoxen Kirchen in der Ukraine gibt es aber auch positive Gegenbeispiele, so z. B. die Befreiung von Gefangenen der nicht-anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Am 27. Dezember 2017 gab es einen Gefangenenaustausch, wobei 73 ukrainische Bürger aus der Gefangenschaft befreit wurden.12 Die bedeutende Rolle der UOK–MP in diesem Prozess wurde von allen Seiten begrüßt.
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Alle diese Beispiele zeigen, dass in der gegenwärtigen Ukraine von den Kirchen eine politische und soziale Rolle gefordert wird. Die Kirchen genießen als Akteure des gesellschaftlichen Lebens Respekt und Anerkennung. Die politische Krise in der Ostukraine hat jedoch die interkonfessionellen Beziehungen deutlich verschärft. Es besteht allerdings die Versuchung einer Säkularisierung der Kirche, wenn ihre Präsenz vor allem in den politischen und gesellschaftlichen Bereichen gewünscht wird. Diese Politisierung kirchlichen Wirkens bleibt eine Herausforderung für die Identität der orthodoxen Kirchen der Ukraine.
Anmerkungen
1) Religiöse Organisationen in der Ukraine (Stand: 1. Januar 2017): https://risu.org.ua/ua/index/resourses/statistics/ukr2017/67269/
2) Bortnyk, Sergii: Kirche(n) in der Ukraine nach der Wende. In: Ökumenische Rundschau, 66, 2 (2017), S. 274–279.
3) Vgl. Hallensleben, Barbara (Hg.): Einheit in Synodalität. Die offiziellen Dokumente der Orthodoxen Synode auf Kreta 18. bis 26. Juni 2016. Münster 2016.
4) Als ungelöstes Beispiel lässt sich die Situation der „Orthodox Church in America“ anführen: Deren Autokephalie wurde 1971 vom Moskauer Patriarchat ausgerufen, wird jedoch bis jetzt von den orthodoxen Lokalkirchen der „griechischen Familie“ nicht anerkannt.
5) http://www.patriarchia.ru/db/text/5074551.html
6) Identity of Ukrainian Citizens: Value Orientation. In: National Security and Defence. Ukrainian Centre for Economic and Political Studies named after Olexander Razumkov 1–2, 169–170, (2017), S. 25–26, http://razumkov.org.ua/uploads/journal/eng/NSD169-170_2017_eng.pdf
7) Ebd., S. 15–19.
8) https://fraza.ua/analytics/222737-pokazatelnoe_nevstavanie_ili_podozhdem_do_sledujuschego_marta_
9) http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511 =58849
11) http://www.patriarchia.ru/db/text/5074390.html
Sergii Bortnyk, Dr. theol., Kirchliches Außenamt der UOK–MP, Kiew.