Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder im Prager Frühling
Ladislav Beneš
Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder begrüßte den Prager Frühling als Möglichkeit, ein neues Gesellschaftsmodell eines demokratischen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu entwickeln. Nach der sowjetischen Invasion betonte die Kirche die Botschaft der Versöhnung wider die Resignation. – R. Z.
Die Invasion der sowjetischen Armee und ihrer Verbündeten in die Tschechoslowakei in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 war eine dramatische Überraschung. Einen gewaltsamen Abbruch des Erneuerungsprozesses hatte niemand für möglich gehalten. Schließlich war die Situation in der Tschechoslowakei eine völlig andere als beispielsweise 1956 in Ungarn: Das Volk wollte doch nicht gegen, sondern gemeinsam mit Partei und Regierung der Gesellschaft ein menschliches Antlitz geben! Gerade die Einheit von Volk und politischer Vertretung unter dem Leitgedanken des „humanistischen Sozialismus“ sowie die Begeisterung, mit der sich die Menschen engagierten, waren für den „Prager Frühling“ charakteristisch.
Wandel von 1948 bis 1968
Das war keineswegs selbstverständlich. Nachdem die Kommunisten 1948 die Macht ergriffen hatten, wurde Privatbesitz enteignet, und die atheistische, marxistisch-leninistische Ideologie für die einzig richtige erklärt. In den 1950er Jahren wurden Zehntausende in politischen Prozessen verurteilt, zu Zwangsarbeit in Lager transportiert, und viele Menschen hingerichtet. Die Kirchen erfuhren eine starke Einschränkung in ihrer Arbeit, denn die neuen „Kirchengesetze“ (1949) machten sie wirtschaftlich total abhängig vom Staat. Ein wichtiges Kontrollinstrument war die Pflicht, eine staatliche Genehmigung für die Wahl eines jeden Pfarrers, für jede Gastpredigt, jeden Umzug usw. zu beantragen. Allmählich wurde auch der Religionsunterricht an den Schulen wie jegliche Jugendarbeit zurückgedrängt. Am schwersten war die katholische Kirche betroffen: Klöster wurden aufgelöst, Priester und Ordensleute interniert. Alle Drucksachen, ebenso Hirtenbriefe oder Gemeindebriefe wurden von den staatlichen „Kirchensekretariaten“ zensiert. Auch wenn es ab den frühen 1960er Jahren Anzeichen der Lockerung gab, änderte sich die Situation für die Kirchen faktisch erst 1968.
Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) begegnete der Situation des Jahres 1968 jedoch nicht gänzlich unvorbereitet. Auch wenn nicht immer von allen Evangelischen (und Christen) im Lande richtig verstanden, übte der evangelische Theologe Josef Hromádka (1889–1969) einen großen Einfluss aus. Schon vor der kommunistischen Machtübernahme 1948 wies er auf die Gefahren des politischen Ost-West-Blockdenkens hin, das zu einem kalten Krieg führen werde. Zum Modell der westlichen Demokratie herrschte nach dem Krieg in der Tschechoslowakei kein großes Vertrauen, die Enttäuschung über den Verrat durch die Westmächte in München 1938 war noch zu lebendig. Hromádka kritisierte allerdings auch die kommunistische Ideologie als zu autoritär, da sie zu Machtmissbrauch neige und ihre materialistische Orientierung über keine tiefere geistliche Verankerung verfüge. Den Kommunismus an sich hielt er für einen ernsthaften Versuch der Suche nach sozialer Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Weil es dem Westen mit seiner humanistischen Tradition im Grund um das Gleiche gehe, hielt er es nicht nur für möglich, sondern lebensnotwendig, einen Dialog zu führen. So setzte er sich vor allem im Rahmen der ökumenischen Bewegung intensiv dafür ein und engagierte sich in der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), die den Dialog der Weltökumene nicht nur zwischen Ost und West führte, sondern zunehmend auch mit der sog. dritten Welt. In den 1960er Jahren entstand ein interessanter und für die kommenden Jahre wichtiger Dialog zwischen Christen und Marxisten. Auch in der katholischen Kirche gab es Begeisterung für diesen Dialog. So suchte die EKBB nach Wegen, um diesen Dialog und den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu unterstützen.
Zu Beginn der 1960er Jahre herrschte eine Wirtschaftskrise, und das Land brauchte dringend eine Erneuerung. Die Planwirtschaft war gescheitert und die Struktur des Sozialismus bekam offensichtlich Risse. Die Repressionen mussten gelockert werden, die staatliche Zensur und die Beschränkungen des kulturellen Lebens waren unhaltbar geworden. Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur durften vermehrt reisen und genossen im Westen große Anerkennung. So kam es langsam zu einer Tauwetter-Periode, die den nahen Frühling ankündigte.
Hoffnung und Resignation
Am 5. Januar 1968 wurde Alexander Dubček, die Symbolfigur des Erneuerungsprozesses, in die höchste Funktion der Kommunistischen Partei gewählt. Die erste offizielle Erklärung der EKBB zur Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft wurde im März 1968 veröffentlicht: „Mit tiefem Verständnis und Sympathie verfolgen wir die Demokratisierung unseres öffentlichen Lebens. In einem neuen kreativen Klima […] ersteht vor uns mit neuer Dringlichkeit das Programm und Ziel des demokratischen Sozialismus.“ Die Kirche nahm hier nach einer Periode des Martyriums nicht aus einer Position der Genugtuung Stellung, sondern leistete Buße: Auch die Kirche sei – mit ihrer Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit – an den schrecklichen politischen Prozessen in den 1950er Jahren beteiligt gewesen, sie bekannte sich mitschuldig an dem vielen Unrecht und all den Deformationen. Forderungen nach Rehabilitation der politischen Gefangenen und der Staatsangestellten, der Lehrerschaft und anderer, die aus religiösen Gründen ihre Arbeitsstellen verlassen hatten müssen, begleiteten den Erneuerungsprozess. In der Erklärung war von keiner eventuellen Machtposition der Kirche die Rede: „Es liegt uns sehr viel daran, dass Glieder der Kirche sich in allem Vertrauen und voller Gleichberechtigung und Freiheit gemeinsam mit ihren Mitbürgern an der moralischen und wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes beteiligen können.“ Abschließend wurde der Staat gebeten, die unwürdige Aufsicht über die Kirchen in Vertrauen umzuwandeln.
Bereits in den Jahren zuvor hatte die EKBB gefordert, auch im öffentlichen Raum wirken zu können: in den Schulen, der Gefängnisseelsorge, in den öffentlichen Medien. Dieser Prozess war mit vielen Hoffnungen verbunden, die auch eine globale Perspektive hatten: „Bei uns kommt es zum ersten Mal in der Geschichte zu einer einzigartigen Situation, nämlich der Möglichkeit, eine zentralisierte Diktaturmacht legal zu zerlegen und ein neues, unerprobtes Modell des gesellschaftlichen Lebens zu entwickeln“, las man im April 1968 in der evangelischen Kirchenzeitung Kostnické jiskry: „Falls dieser Versuch gelingt, wäre das ein nicht unbedeutender Beitrag unseres kleinen Landes zur Lösung der großen und schicksalhaften Probleme der Welt. Es könnte sogar zum Einsturz des sogenannten eisernen Vorhanges beitragen.“
Die Okkupation hat das alles zunichtegemacht. Die ersten Erklärungen der EKBB zur Okkupation erfolgten gleich am 21. August. Zuerst eher privat betonte Hromádka in seinem Brief an den sowjetischen Botschafter in Prag, Stepan V. Tschervonenko, seine „tiefe Enttäuschung und Bedauern“, denn Freundschaft und Respekt zur Sowjetunion könnten sich jetzt rasch in Feindschaft umwandeln. Es sei ein tragischer Irrtum der Sowjetregierung, denn die Invasion diskreditiere den Gedanken des Sozialismus nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern in der ganzen Welt. Ein tragischer Irrtum sei es zu meinen, die Tschechoslowakei brauche Hilfe bei der Erneuerung der Einheit des Volkes und der politischen Repräsentation, die es durchaus gegeben habe, jetzt aber bedroht sei. Das alles erklärte Hromádka in einem umfangreichen Memorandum für die CFK im Oktober 1968 detailliert.
Einige Tage nach der Invasion begannen die Geistlichen der EKBB ihre Erklärung mit einem großen Dank an die Vertreter der Partei und die Regierung für ihre Verurteilung der Okkupation und ihren Mut. Ebenso betonte die erste Erklärung des Synodalrates der EKBB die Solidarität mit der politischen Vertretung und protestierte gegen die Verletzung der Staatssouveränität. Die Erklärung enthielt auch Aufforderungen, die Wahrheit des Evangeliums als Dienerin der Gerechtigkeit und Menschlichkeit im gewaltlosen Widerstand zu bewahren, wie auch Befürchtungen, die Stimmung könnte zu Vergeltung umschlagen.
Die Erklärungen erinnerten an den echten Grund des Glaubens – die Verheißungen Gottes, die zur Erfüllung kommen: „Diese Bewegung können auch die Panzer nicht zum Stehen bringen.“ Diese lebendige Hoffnung war der Grund, warum man in diesen Tagen so viel von Einheit, Unterstützung und Weiterarbeit an der Erneuerung lesen und hören konnte – es bestehe kein Grund zur Resignation. In den Gemeinden sollte jetzt noch intensiver Seelsorge betrieben werden. Denn der 21. August sei keine Tragödie und kein Ende, sondern eine echte Läuterung, um Gerechtigkeit und Frieden in Zukunft noch besser zu pflegen. Ähnlich argumentierte noch die Erklärung der Synode der EKBB vom Februar 1969, die auf die zunehmende Resignation und auch Hass reagierte: „Die Realität der Versöhnung in Christus ist mächtiger als alles, was im August 1968 passierte. Die Kirche kann nicht anders, als die Versöhnungsbotschaft zu verkündigen, auch den Menschen der fünf Nationen“, deren Truppen die Tschechoslowakei okkupierten.
Mit der Invasion veränderte sich die Situation der Kirchen nicht direkt. Erhöhter politischer Druck kam erst später. Im Januar 1969 verbrannte sich der evangelische Student Jan Palach und wollte damit das Volk aus Resignation und Lethargie aufwecken. In den 1970er Jahren stellte sich für die Kirche wieder die leider nicht unbekannte Situation der Repression und Ausgrenzung ein. Für die Generation des Prager Frühlings war das eine Tragödie – sie hatten einen Hauch von Freiheit und Hoffnung erlebt, und danach wieder Totalitarismus. Kein Wunder, dass auch die hoffnungsvollen Ereignisse von 1989 – 21 Jahre nach dem Prager Frühling – die Mentalität der Enttäuschung, Distanz und Lethargie nicht ganz brechen konnten.
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In den Tagen unmittelbar nach dem Einmarsch wurden 140 Leute erschossen oder waren durch Militärfahrzeuge tödlich verunglückt. Heute unterstützt die EKBB eine Privatinitiative zum Gedenken an die Opfer der Okkupation (http://okupace.evangnet.cz). Diese Initiative möchte möglichst an allen Todesorten in der Tschechoslowakei Gedenktafeln installieren, die an die Ereignisse im August 1968 und ihre Opfer erinnern.
Literatur:
Beneš, Ladislav: Prager Frühling 1968 und die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder. In: Kirchliche Zeitgeschichte 17, 1 (2004), S. 154–170; Filipi, Pavel: Do nejhlubších hlubin: život – setkávání – teologie / k stému výročí narození J. L. Hromádky. Prag 1990; Vaňáč, Martin: Křesťanské církve v českých zemích v 60. letech (1960–1968). In: Getsemany: křesťanský měsíčník 10, 10 (2001): https://www.getsemany.cz/node/318.
Ladislav Beneš, Dr., Evangelische Theologische Fakultät der Karls-Universität Prag, Tschechien.