Eine Wahlrevolution in der Ukraine
Volodymyr Fesenko
Die diesjährigen, siebten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine seit 1991 sind die ungewöhnlichsten in der bisherigen Geschichte unseres Landes. Sowohl der Wahlkampf wie das Wahlergebnis sind eine Sensation.
Zur Wahl hatte sich eine Rekordzahl von 44 offiziellen Kandidaten angemeldet. Nachdem fünf Kandidaten ausgeschieden waren, verblieben 39 Kandidaten auf dem ebenfalls rekordmäßig 80cm langen Wahlzettel. Im ersten Wahlgang am 31. März erhielt der Schauspieler und Entertainer Volodymyr Selenskyj 30,24 Prozent der Stimmen, der amtierende Präsident Petro Poroschenko landete mit 15,95 Prozent auf dem zweiten Platz. Julija Tymoschenko, die drei Monate zuvor die Umfragen noch mit beträchtlichem Vorsprung angeführt hatte, belegte mit 13,4 Prozent den dritten Rang. Der Kandidat, den Russland offen unterstützt hatte, Jurij Bojko, erreichte nur den vierten Platz mit 11,67 Prozent der Stimmen. Der Versuch des russischen Präsident Vladimir Putin, die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine zu beeinflussen, scheiterte damit. Bei der Stichwahl am 21. April votierten 73,22 Prozent der Wähler für Volodymyr Selenskyj und 24,45 Prozent für Poroschenko. Damit siegte in der Ukraine zum ersten Mal ein Präsidentschaftskandidat mit einem Vorsprung von fast 50 Prozent gegenüber seinem Konkurrenten. Zum ersten Mal erhielt jemand die Mehrheit in fast allen Regionen des Landes. Und die größte Sensation ist, dass zum ersten Mal ein Mensch zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, der sich vorher nie politisch engagiert hatte.
Wahlentscheidende sozioökonomische Probleme
So hat die Ukraine Europa, wenn nicht gar die ganze Welt einmal mehr überrascht. Das Land, das in den vergangenen 15 Jahren zwei Revolutionen mit anschließenden Machtwechseln erlebte, hat durch die Wahl eines solch ungewöhnlichen Präsidenten schon wieder eine Revolution hervorgebracht: eine Wahlrevolution. Ein Novum war auch die Debatte zwischen den beiden Finalisten im Kiewer Olympiastadion vor 20 000 Zuschauern; Millionen von Menschen nicht nur aus der Ukraine schauten sich die Debatte in der TV-Direktübertragung an.
Wie sind die Paradoxe der sensationellsten Präsidentschaftswahl in der Ukraine zu erklären? Wie ist das Phänomen Volodymyr Selenskyj zu begreifen? Noch vier Monate vor seiner Wahl konnte sich niemand, auch er selbst nicht, einen solchen Wahlausgang vorstellen.
Die Präsidentschaftswahlen haben unter äußerst vielschichtigen Bedingungen stattgefunden: Bereits fünf Jahre dauert der militärisch-politische Konflikt mit Russland. Die Kriegshandlungen finden zwar nur im Osten des Landes statt, doch werden sie als das größte gesellschaftliche Problem wahrgenommen. Noch stärker beeinflussen sozioökonomische Probleme die Stimmung der ukrainischen Bürger – ein sinkender Lebensstandard, tiefe Löhne und Pensionen, Preiswachstum, besonders für Gas und Kommunaltarife. Die Mehrheit dieser Probleme ist eine Folge des Kriegs und der Verluste von Gebieten und ökonomischem Potenzial. Dennoch hat die sozioökonomische Unzufriedenheit unvermeidlich auch zu scharfer Kritik an der Regierung von Präsident Poroschenko geführt. Dank einer hyperaktiven, massiven Agitationskampagne, die auf national-patriotischen Losungen basierte, gelang es Poroschenko dennoch, Julija Tymoschenko zu überholen und den zweiten Wahlgang zu erreichen. Dazu trug auch die Tatsache bei, dass es ihm gelungen ist, die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine zu erlangen.
Vertrauensverlust der politischen Elite
Die massiven sozioökonomischen Probleme, die Folgen des Kriegs und der Revolution von 2014 sowie die unerfüllten soziopolitischen Erwartungen einer Mehrheit der Ukrainer haben zu einer präzedenzlosen Vertrauenskrise gegenüber den politischen Eliten und den traditionellen Politikern geführt. Unter allen Präsidentschaftskandidaten wurde Poroschenko am wenigsten Vertrauen ausgesprochen. Soziologischen Umfragen zufolge sagte etwa die Hälfte der ukrainischen Wähler bereits ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, dass sie unter keinen Bedingungen für Poroschenko stimmen werde. Das führte zu seiner gewaltigen Niederlage in der zweiten Wahlrunde.
Bereits vor zwei Jahren entstand Soziologen zufolge bei zwei Dritteln der Ukrainer eine große Nachfrage nach „neuen Gesichtern“ in der Politik. Dabei konnte mehr als die Hälfte der Befragten keine neuen Politiker benennen, die sie unterstützen würden. Nach den Präsidentschaftswahlen von 2017 in Frankreich begann man einen „eigenen Macron“ zu suchen, doch man fand eine völlig andere Figur: Volodymyr Selenskyj. Warum?
Angesichts der Vertrauenskrise einer relativen Mehrheit der Ukrainer gegenüber traditionellen Politikern entstand das Bedürfnis nach einem alternativen, apolitischen Antisystem-Kandidaten für das Landesoberhaupt. Offenbar sahen viele Ukrainer nur zwei berühmte Personen in dieser Rolle: den Schauspieler Volodymyr Selenskyj und den populären Musiker Svjatoslav Vakartschuk. Doch Vakartschuk verzichtete nach langem Schwanken auf eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen. So erlangte Selenskyj eine Monopolstellung bei den ukrainischen Wählern, zerschlug mit der Ankündigung seiner Kandidatur die gewöhnliche Logik der Präsidentschaftswahlen und vernichtete damit die Chancen sämtlicher Oppositionspolitiker wie auch des amtierenden Präsidenten Poroschenko.
Das politische Phänomen Selenskyj hängt auch mit der populären TV-Serie „Diener des Volkes“ zusammen, die er konzipiert hat, und worin er die Hauptrolle spielt. In dieser Serie wird ein einfacher Geschichtslehrer Präsident des Landes und versucht das politische System zu zerschlagen, das von Oligarchen und bestechlichen Politikern kontrolliert wird. Scheinbar sind die Anhänger Selenskyjs bereit, dieses Szenario in das reale Leben zu übertragen. Am ehesten ist Selenskyj mit dem italienischen Komiker und Blogger Beppe Grillo und seiner Partei Cinque Stelle zu vergleichen. Viele Beobachter vergleichen ihn auch mit dem extravaganten Präsidenten der USA, Donald Trump. Doch Selenskyj ist weit jünger als Grillo und Trump. Er ist eine Herausforderung und ein gewaltiges Experiment sowohl für die ukrainische wie auch für die europäische Politik.
Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.
Volodymyr Fesenko, Dr., Politologe, Leiter des Zentrums für angewandte politische Forschungen Penta, Kiew.