„Losing my religion“ – der ukrainische Sowjetmodernismus und wir
Ievgeniia Gubkina
Das architektonische Erbe der Sowjetzeit in der Ukraine fällt nach und nach der Zerstörung anheim. Mit einer Dokumentationsreise und einem Buch kämpfen eine Architektin und ein Fotograf für den Erhalt dieses Erbes. Ernüchtert von der schlechten Qualität der Objekte und der politischen Realität beschreiben sie ein differenzierteres Verhältnis zum sowjetischen „Modernismus“, seinen Architekten und deren sozialpolitischen Kontext. – R. Z.
Weltweit hat im vergangenen Jahrzehnt das Interesse an der sowjetischen Architektur zugenommen. In der Ukraine hingegen ist gegenwärtig alles „Sowjetische“ mit einem Stigma behaftet, und deshalb wird ihr architektonisches Erbe zielstrebig zerstört, wenn nicht gar ausgerottet. Ende Mai präsentieren der Fotograf Alex Bykov und ich an der Kiewer Buchmesse unser Buch „Soviet Modernism, Brutalism, Post-Modernism. Objects and Structures“ (Berlin 2019). Das Buch basiert auf wissenschaftlichen und Feldforschungen und stellt den Versuch dar, die sowjetische Nachkriegsarchitektur in der Ukraine einer Revision zu unterziehen und neu zu bedenken. Alex Bykov dokumentiert die meisten Objekte in ihrem gegenwärtigen Zustand in ihrer realen Umgebung. Meine Analyse soll die Schichten der sowjetischen Nachkriegsarchitektur im globalen, historischen und politischen Kontext freilegen sowie die Gründe, Logik und Akteure der Bauprozesse präsentieren. Zur Beschreibung der sowjetischen Architektur verwenden wir neben dem etablierten Begriff „Modernismus“ zusätzlich die Begriffe „Brutalismus“ und „Postmodernismus“. Zudem engagieren wir uns für den Erhalt der sowjetischen modernistischen Architektur und versuchen in diesem Buch, die Einstellung einer neuen Generation junger ukrainischer Architekten zum Erbe der sowjetischen Ukraine darzustellen.
Das Buch ist für uns zu einem Abenteuer der besonderen Art geworden: Wie ein „road movie“ oder „travelogue“ stellt der Weg zum Buch eine Suche dar, die nicht weniger wichtig war als das Resultat. Wir sind das Projekt mit wissenschaftlichen Fragen angegangen, sind aber daraus mit völlig neuen, noch komplexeren Fragen hervorgekommen. Nach einem Jahr der Erforschung unserer geliebten architektonischen Objekte hat das Projekt uns und unser ursprüngliches Verhältnis zum Modernismus verändert.
Wer waren wir?
Bereits 2017 hielt Alex Bykov einen Vortrag mit dem Titel „Wo ist der Modernismus, und wo bin ich?“, in dem er die eigene Rolle im Umgang mit dem modernistischen Erbe reflektierte. Von uns, der Generation „junger Architekten“ oder „junger Forscherinnen“ wird viel und alles Mögliche erwartet: Wir sind die neue ukrainische Generation, die nach dem Majdan die alte Garde ablösen soll. In uns sieht man eifrige Aktivisten, junge „decision makers“ und „changers“, Propheten einer neuen Architektur und Urbanistik, einer kreativen Ökonomie, die fähig sind, den Gang der Ukraine (wenn nicht gar der ganzen Welt) voranzutreiben. Andere träumen davon, in uns Revolutionäre, eine „neue Welle“ oder eine „zornige Generation“ zu sehen.
Alex und ich sind beide 1985, an der Schnittstelle der Epochen geboren – zwischen der Sowjetunion und der unabhängigen Ukraine. Wir können uns mutig als sowjetische „Millenials“ bezeichnen. Nur sehr vage erinnern wir uns an die Perestrojka und den Zerfall der UdSSR, die Formierung neuer politischer Verhältnisse und an eine Reihe tiefer ökonomischer Krisen. Wir wuchsen in den sog. „wilden 1990er Jahren“ auf und immatrikulierten uns in den „stabilen“ 2000er Jahren an den ukrainischen Hochschulen für Architektur. Wir kommen beide aus Architekten-Dynastien, versuchten mit allen Kräften den Beruf zu beherrschen und uns eine „architektonische“ Weltsicht zuzulegen. Dabei erhielten wir noch eine sowjetische Architekturausbildung in einem bereits nicht mehr sowjetischen Land. Wie für alle sowjetischen Architekten waren Le Corbusier und Oscar Niemeyer unsere Lehrmeister. So strebten wir in einem vollkommen „sowjetischen“, im Grunde modernistischen Geist stets danach, einen Durchbruch zu vollbringen. Wie alle vorangegangenen Generationen träumten wir davon, der Welt eine ganz besondere Konstruktion auf der Grundlage des spezifischen Erbes des postsowjetischen Landes zu bieten. Wir setzten die Prioritäten bei Talent, kühnen und frischen Perspektiven, und wir strebten danach, Probleme weder zu verneinen noch zu verbergen.
Gleichzeitig war es damals normal, alles „Sowjetische“ und damit auch die sowjetische Architektur zu verurteilen. Im postsowjetischen Raum triumphierte der kommerzialisierte Postmodernismus, die lokalen Architekten verachteten selbstvergessen den Modernismus und sagten sich von seiner Sprache, Methode und Ethik los. Diese Entwertung löste in uns automatisch Widerstand und Protest aus und damit auch den Wunsch, das Phänomen der sowjetischen Architektur auf unsere Art zu betrachten. Gerade während unserer Studienzeit zerfiel die „sowjetische Stadt“ endgültig, und auf ihrem Skelett wuchs ein vollkommen hässliches Hybrid. Daran gaben wir traditionellerweise unseren „Eltern“ die Schuld. Vor diesem Hintergrund erschienen uns die sog. „Sechziger“ als verführerische und ehrwürdige Lehrmeister: Unsere beruflichen „Großeltern“ mit ihren puristischen Kästen und den aus einer anderen Realität stammenden kosmischen Formen.
Der „Sowjettrend“
Viele glauben, der „Sowjettrend“ im postsowjetischen Raum sei von Ausländern entdeckt worden. Doch verhält sich die Sache natürlich ein wenig anders. Neben den gewaltigen Bibliotheken an sowjetischer Architekturliteratur gab es in unserer Studienzeit bereits eine ziemlich kritische Auseinandersetzung damit: Ausstellungen, Publikationen und Zeitschriften über das Erbe des Modernismus. Hier sind die Beiträge der Historikerin Anna Bronovizkaja und des Kunstwissenschaftlers Nikolaj Malinin zu nennen wie auch der Einfluss der Fachzeitschriften Projekt International und Projekt Rossija. In Charkiv erschien jahrelang die Zeitschrift Vaterpas, die eine Plattform für die Architekten der älteren Generation darstellte. Zu einer echten Chronik der Architektur der 1990er und 2000er wurde das Architekturjournal A.S.S. mit Beiträgen über den ukrainischen Modernismus. So erschien 2005 eine skandalträchtige Nummer der Zeitschrift mit dem Titel „Zauberhafter Ava“, die dem Architekten Avraam Milezkij gewidmet war und in der Architektenzunft für heftige Reaktionen sorgte. 2007 gesellte sich Alexander Burlak neben Xenija Dmitrienko zu den Autoren von Beiträgen über den sowjetischen Modernismus. 2013 organisierte Alex Bykov eine Ausstellung und eine Nummer der Zeitschrift Objekt über das Schaffen des Architekten Eduard Bil’skij. 2015 organisierten Alex Bykov, Alexander Burlak und Alexej Radynskij die Ausstellung „Überbau“ im Zentrum für visuelle Kultur in Kiew.
Mein eigener Weg zur Nachkriegsarchitektur führte durch die Architektur der Zwischenkriegszeit. Als Ureinwohnerin der sozialistischen Trabantenstadt „Neues Charkiv“, die Anfang der 1930er Jahre für die Arbeiter der Charkiver Traktorenfabrik gebaut worden war, habe ich meine Bachelor- und Magisterarbeiten der Analyse und Projektvorschlägen zur Rehabilitation dieses Stadtteils gewidmet. Zum Thema meiner nicht verteidigten Dissertation wurden dann die Entwicklungsperspektiven der sozialistischen Städte (sozgorod) in der Südostukraine. Der Übergang zur Nachkriegsarchitektur geschah 2013 aufgrund einer Einladung von Olga Kasakovaja, die die Architektur der sowjetischen Tauwetter-Periode erforscht, zur Konferenz „Sowjetischer Modernismus: Formen der Zeit“, an der ich einen Vortrag über die Architektur der Charkiver Metro hielt. Doch der wirkliche „Sprung“ in die völlig andere historische Periode war der Vorschlag von Philipp Mojser, ein Buch für den deutschen Verlag DOM publishers über die letzte Planstadt der UdSSR zu schreiben – über Slavutytsch (Berlin 2015), das 1988 nach der Tschernobyl-Katastrophe gebaut wurde.
Von der Forschung zum Aktivismus
Die Ereignisse des Majdan haben das Leben des größeren Teils der ukrainischen Gesellschaft verändert. Ich bin da keine Ausnahme. Damals erkannte ich die aktivistische, politische Komponente meiner Tätigkeit – die Notwendigkeit, Veränderungen in der Gesellschaft mitzugestalten. So wurde ich 2014 Mitgründerin der NGO Urban Forms Center, die sich mit Städteforschung und Fragen des Studiums und des Erhalts des Erbes befasst. Unsere Organisation hat bereits eine Reihe von Konferenzen durchgeführt, darunter „Die Universalität der Phänomene des Saporoscher Modernismus und der Bauhaus-Schule“ 2017, sowie andere Veranstaltungen wie das urbanistische Kolloquium „Atomstädte: Planstädte in der gegenwärtigen Gesellschaft“ und das Forum „Charkiv: Inventarisierung“. Seit 2015 arbeite ich auch als assoziierte Forscherin am Zentrum für Stadtgeschichte Mittelosteuropas in Lviv, wo ich eine Serie von „Urban Summer Schools: Visions and Experiences“ koordinierte. Bedeutsam für die Erweiterung meiner Methodologie war die Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll-Stiftung in der Ukraine und mit Julija Popova, mit denen ich das Projekt „Modernistinnen“ (Modernistki) realisierte, mit Konferenzen zu Gender-Fragen in Kunst, Architektur und Städtebau. So gewannen meine wissenschaftlichen Ansichten eine aktivistische und feministische Optik, und meine Interpretation der Forschungsobjekte erhielt eine politischere Dimension.
Entdeckungsreisen
Das Buchprojekt zum sowjetischen Modernismus, Brutalismus und Postmodernismus hat tiefe Wurzeln. Alex Bykov und ich wussten bei unserer ersten Begegnung 2014, dass wir „irgendetwas“ zusammen machen müssen – so ähnlich waren unsere Biographien und Ideen. Wir begannen Material in Archiven und Bibliotheken zu sammeln, Architekturobjekte zu dokumentieren, Bücher und Zeitschriften in Antiquariaten zusammenzukaufen und vor allem lange Interviews mit sowjetischen Architekten zu führen. Ich erarbeitete eine sich stets erweiternde Datenbank mit modernistischen Objekten in der gesamten Ukraine und „ermittelte“ nicht nur im Internet und Archiven, sondern auch dank eines Netzes von Aktivisten, Historikern und Landeskundlern wie auch Personen, die sich auf meine Anfrage meldeten: „Gibt es in Ihrer Stadt etwas ‚Sowjetisches’?“ Alex begab sich auf Expeditionen in eine gewaltige Anzahl von Städten und Ortschaften der Ukraine, um Gebäude der Nachkriegsarchitektur zu fotografieren.
Dabei trieb uns das Entdeckerfieber. Wir suchten hauptsächlich die unmittelbare Interaktion mit den Architekturobjekten. Doch noch viel wichtiger war der Austausch mit den lokalen Bewohnern über das Schicksal dieser Gebäude: Die Architektur ist verwachsen mit den Geschichten und Schicksalen der Menschen wie auch mit Landschaften. Auf einmal wurde sie lebendig, greifbar und subjektiv. Darüber hinaus begann sie zu sprechen, und wir mussten sie übersetzen. Bereits die ersten Beobachtungen erstaunten uns: erstens, die unerwartet hohe Anzahl, das weit verzweigte Netz und die Verbreitungsdichte modernistischer Objekte in der Ukraine, und zweitens, das kolossale Ausmaß ihrer Zerstörung. Wir fragten uns: Tragen wir neben der Ausbeutung der „exotischen Ruinen“ der sowjetischen Periode eine Verantwortung? Sollen wir angesichts der Zerstörung und Erinnerungsverweigerung neutral bleiben, oder sollen wir diese Objekte nicht vielmehr verteidigen?
So erkannten wir: Ungeachtet aller Arbeitserfahrung zum Thema „Modernismus“ sind wir das Buch mit einer Reihe krasser Stereotypen und Erwartungen angegangen. Die erste Anmaßung war die naive Überzeugung, dass unsere Forschungsobjekte wenn nicht von hoher, so doch mindestens von mittelmäßiger Qualität sein sollten. In der Realität entmutigte uns die extrem schlechte Qualität nicht nur der Ausführungen, sondern auch der Planungen. Jeder Forscher kennt die Versuchung, fanatisch demonstrieren zu wollen, dass sein Forschungsobjekt das einzigartigste, ungewöhnlichste und schlicht das beste ist. Dieses Risiko nimmt besonders vor dem Hintergrund der großen Anzahl der in der letzten Zeit publizierten Bücher und Alben zu, die den sowjetischen Modernismus als etwas besonders Verrücktes, Komisches und Unterhaltsames darstellen. Solche Publikationen folgen den Prinzipien des gegenwärtigen Marketings oder Tourismus und verwandeln eine Studie in eine Show und das Forschungsobjekt in ein kommerzialisiertes Verkaufsobjekt. Doch in unserer postkolonialen Situation müssen wir nüchtern anerkennen, dass ein Objekt nicht dazu verpflichtet ist, attraktiv oder „genießbar“ zu sein. Das wirft eine ganze Reihe ethischer Fragen in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Forscher und seinem Objekt auf. Einerseits zieht die Erkenntnis der unerwartet schlechten Qualität der Objekte neue und extrem wichtige Forschungsfragen nach sich, und andererseits ein Verständnis dafür, dass das Erbe, das wir studieren, verteidigen, ja sogar lieben, uns nichts schuldig ist, dass es nicht das beste in der Welt sein muss. Schließlich lieben wir unsere Großeltern auch nicht weniger, nur weil ihre Biographien nicht so beeindruckend sind wie diejenigen von Elisabeth Taylor oder Elvis Presley. Diese Einsicht führte unvermeidlich zu einem Missverhältnis von Anspruch und Realität.
Neue Perspektiven auf die Nachkriegsarchitektur
Lange wurde in der Praxis und Analyse der Architektur die Rolles des Architekten völlig überschätzt. Praktisch unser ganzes architekturhistorisches Narrativ basiert auf Beispielen erfolgreicher „Patriarchen“, herausragenden Männern und Schöpfern, die dank ihres Talents und ihrer Tatkraft geniale Ideen inkarnierten. Doch sogar wenn man alle sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren beiseitelässt, zieht der Großteil der Objekte des sowjetischen Modernismus in der Ukraine diese Legende in Zweifel – und zerstört sie. In der sowjetischen Nachkriegsarchitektur spielte nicht der Geschmack von Architekten die entscheidende Rolle, sondern das staatliche System. Der kolossale Umfang an Schwierigkeiten und Hindernissen, die der wirtschaftliche Verwaltungsapparat hervorrief, hat schöpferischen Ausdruck, effiziente Arbeitsprozesse und unabhängige Entscheidungsfindung für Architekten praktisch verunmöglicht. Ungeachtet dessen kann man in der Nachkriegsarchitektur der Ukraine durchaus einen „Stararchitekten“ ausmachen: Avraam Milezkyj. Eine phänomenale Persönlichkeit, die über stilistischen Spielereien und politischen Veränderungen steht und eine reflexive Architektur schuf. Sein Erbe verdient größere Aufmerksamkeit, weil es nicht dank, sondern trotz (des Sowjetsystems) geschaffen wurde. Es ist eine Architektur des Widerstands.
Eine weitere festgefügte Annahme war, dass das ganze sowjetische Erbe homogen sei. Wenn wir von „sowjetischem Modernismus“ sprechen, meinen wir damit scheinbar, dass in den ganzen 40 Jahren ein und dieselbe Architektur geschaffen worden sei, was jedoch falsch ist. Die sowjetische Architektur kann ebenso periodisiert werden wie die Weltarchitektur, allerdings mit eigener Spezifik. Wenn wir also allen Objekten den Begriff „Modernismus“ anheften, erkennen wir bereits auf den ersten Blick, dass zwei Drittel der Objekte den grundlegenden Prinzipien des Modernismus zutiefst widersprechen. So passiert entweder ein Fehler oder eine Begriffsfälschung.
Wenn wir in der sowjetischen Nachkriegsarchitektur nach einer zweiten Welle des Modernismus suchen, die die Prinzipien der der 1920–30er Jahre fortführen, oder wenn wir versuchen, dem „Imperium des Bösen“ eine Architektur der grausamen und „militanten“ Moderne zuzuschreiben, dann suchen wir nach Wohnmaschinen à la Le Corbusier, den Doktrinen von Mies van der Rohe, dem Technokratismus von Louis Kahn, der Infernalität und dem Utopismus der sowjetischen Avantgarde. Wir suchen diese dort, wo die leichten und frivolen Konstruktionen der „sweat sixties“ aufblühen, oder wo sich schwerfällige und plumpe Theater und die Stadtexekutivkomitee-Gebäude der Breschnewschen Stagnation auftürmen, die kaum eine neue Lebensordnung verkünden. Wenn Forscher diese Gebäude als Objekte des kanonischen Modernismus kritisieren, treiben sie sich damit selbst in die Enge. Weil das, was sie kritisieren weder gemäß den Zielen noch den äußeren Charakteristiken Modernismus ist. So entstand das Bedürfnis nach äquivalenten Bezeichnungen – auf die Gefahr hin, schon wieder ein Stereotyp zu bemühen. Denn wenn wir das Erbe der Breschnew-Zeit nur nach dem Kriterium der Schwerfälligkeit „Brutalismus“ nennen, dann verleihen wir ihm damit eine „vertrauenswürdige Reputation“. Im Falle des sowjetischen Erbes funktioniert das allerdings so nicht, denn Brutalismus kann „schlecht“ sein, was seine Qualität, untalentierte Architekten oder seine Ziele betrifft, die von den Absichten der „zornigen Generation“ der britischen Brutalisten weit entfernt sind. Zudem kann er sich im Kern selbst widersprechen. So besteht der sowjetische Brutalismus schlicht nicht aus Eisen und Beton, sondern aus qualitativ schlechten Backsteinen, die mit dekorativen Steinplatten zugedeckt werden. Der sowjetische Brutalismus ist teuer, pompös, strebt nicht nach ingenieurtechnischer Innovation oder Anwendung zeitgenössischer Technologien. Er ist konservativ und nicht progressiv. Er ist ein Kind der Stagnation und des Kalten Kriegs.
Dasselbe gilt auch für den „Postmodernismus“. Eine lange Zeit war der Witz verbreitet, dass es in der UdSSR nicht nur keinen Sex geben könne, sondern auch keinen Postmodernismus –als leuchtendes Beispiel eines Oxymorons. Doch so sehr der Postmodernismus als Gipfel der Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts und als zutiefst reflexiver, intellektueller kritischer Stil oder gar als Methode gilt, die vor allem der Philosophie der Postmoderne entspricht, müssen die Sympathisanten des Postmodernismus dennoch anerkennen, dass es in der UdSSR nicht nur Sex, sondern auch Postmodernismus gab. Und dass auch der Postmodernismus nicht immer nur „gut“ und intellektuell anspruchsvoll ist, sondern mittelmäßig, unreflektiert und sogar langweilig sein kann, kurz: vielfältig.
Schließlich besteht das am meisten verbreitete Stereotyp darin, dass die Menschen die sowjetische Architektur nicht mögen. Als wir von Stadt zu Stadt, von Objekt zu Objekt reisten und mit sehr vielen Menschen diverser sozialer Gruppen und mit unterschiedlichem Grad des Interesses am Schicksal der Objekte sprachen, haben wir jedoch nur positive Reaktionen auf diese Architektur, Empörung über deren Zerstörung und vor allem einen tiefen Protest gegen den Verlust der sozialen und kulturellen Funktionen beobachtet, die der sowjetische Modernismus teilweise innehatte. Schon seit Jahrzehnten geistert in weltweiten wie auch in postsowjetischen Diskursen die Behauptung herum, dass die Architektur des Modernismus zerstört wird, weil sie irgendwelche „einfachen Leute“ als Nutzer dieser Architektur nicht verstehen oder annehmen würden. Aus meiner Sicht gibt es dafür keinerlei Beweise. Gefragt werden sie sowieso nicht: Ausgehend von den eigenen Zielen oder den Zielen des Big Business, mit dem die gegenwärtige Regierung oft korrupte Beziehungen unterhält, trifft im postsowjetischen Raum einzig die Regierung solche Entscheidungen. Die Gesellschaft und Aktivisten sind nicht nur aus dem Entscheidungsfindungsprozess komplett ausgeschlossen, sondern haben auch keine Möglichkeit, diesen Prozess zu beeinflussen.
Wer sind wir heute?
Beim Projektstart waren wir voller Enthusiasmus. Wir glaubten genau zu wissen, wie man alles korrigieren, verbessern und verändern kann. Als engagierte, nicht gleichgültige Forscher erlebten wir jede Objektzerstörung mit hundertfachem Schmerz und konnten uns nicht auf passive Kontemplation und Beobachtung beschränken. Angefüllt mit den Postulaten der „neuen Urbanistik“ und allen möglichen Trainings für persönlichen Erfolg und „Know-how-Workshops“, strebten wir wie Missionare selbstgefällig danach, irgendjemanden zu retten und aufzuklären. Doch die harte Realität demonstrierte die totale Unmöglichkeit, das Erbe des Modernismus zu retten oder zu erhalten. Da wir nur über beschränkte Mittel verfügen, können wir die Situation in der Ukraine nicht verändern. Und es bleibt nichts übrig als die Anerkennung der Tatsache, dass ein großer Teil der Objekte des Nachkriegsmodernismus in der Ukraine in den folgenden Jahren unvermeidlich zerstört werden wird. Das Buch wird daran nichts ändern. Was es aber tun kann, ist Fragen aufzuwerfen. Wenn dieser kleine Schritt gelingt, dann halte ich das für einen strategischen Sieg, nicht nur meinen eigenen, sondern meiner Generation.
Zu unserem Erstaunen war ein weiteres Resultat unseres Projekts das Überdenken unseres Verhältnisses zur vorangehenden Generation der „Eltern“. Hatten wir sie zuvor verurteilt, mussten wir jetzt mit Schrecken erkennen, dass wir uns in derselben Situation befanden wie sie, und gezwungen waren, ihre Verhaltensmuster zu wiederholen. Unsere Vorgänger zu beschuldigen führt uns nicht zur Lösung der Probleme, wenn wir die wahren Schuldigen des Vergangenen verbergen. Erstmals verspürte ich dieselbe Solidarität, die ich für diskriminierte Gruppen, Gleichaltrige, internationale Feministinnen und Aktivistinnen verspürte, auch für die Generation der Eltern, denen ich die Verantwortung für das, was vor sich geht, zugeschoben hatte. Der Fokus verlagerte sich auf uns selbst: Wir haben den Eltern vorgeworfen, ihre Revolution verraten zu haben. Aber verraten wir nicht gerade auch unsere eigene Revolution?
Als Antwort auf die Frage: „Was ist Modernismus?“ stellt sich eine neue Frage: „Wer sind wir?“ Aus der Suche nach Überzeugungen sind wir sprachlos hervorgegangen, doch ist mir diese Sprachlosigkeit teuer und erfüllt mich mit mehr Hoffnung als Selbsttäuschung. Das Buch konnte nicht das Ziel unseres Weges sein. Im Gegenteil ist es erst ein Anfang.
Anmerkung
1) Titel eines Lieds der amerikanischen Rockband R.E.M. von 1991 über die Krise der Generation X.
Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.
Ievgeniia Gubkina, Architektin, Architekturhistorikerin, Mitgründerin der NGO Urban Forms Center, Charkiv, Ukraine.