In memoriam Gerd Stricker (1941–2019)
Am 21. Mai 2019 ist Gerd Stricker, langjähriger Redakteur und Chefredakteur der Zeitschrift G2W (heute: RGOW), überraschend im Alter von 77 Jahren in Küsnacht verstorben. Über mehrere Jahrzehnte hat sich Gerd Stricker zuerst am Ostkirchen-Institut der Universität Münster und später am Institut G2W mit der religiösen und politischen Situation in Russland und seinen Nachbarländern beschäftigt und immer wieder zu aktuellen Entwicklungen pointiert Stellung genommen.
Peter Maser und Stefan Kube erinnern an Gerd Strickers Wirken in Münster und Zürich.
Die Nachricht von seinem Tod hat im Kreis der ehemaligen Angehörigen des Ostkirchen-Instituts (OKI) große Anteilnahme ausgelöst, obwohl Gerd Stricker bereits 1986, also vor mehr als drei Jahrzehnten, von Münster nach Zürich zum Institut G2W wechselte. „Erinnerung ist wach“, war ein Satz, den er oft zitierte. Gerd Stricker wird in unserer Erinnerung als liebenswürdiger Kollege und verlässlicher Freund fortleben.
Das Ostkirchen-Institut der 1980er Jahre ist ohne den Verstorbenen nicht zu denken. Sein spezifischer Arbeitsstil, der exzessive Nachtschichten im Institut (mit Luftmatratze und Hundebegleitung) und Tipp-Ex-überflutete Manuskripte, die nur noch unsere Sekretärin zu entschlüsseln vermochte, einschloß, wurde ebenso legendär wie seine breitgefächerten Kenntnisse auch abgelegener Winkel des religiösen Lebens im östlichen Europa. Gerd Stricker war ein „Schreibtischtäter“ von beeindruckender Produktivität, ein vielgefragter Referent bei Konferenzen, Seminaren sowie Tagungen im In- und Ausland und ein echter Freund der verfolgten Christen im kommunistischen Machtbereich, insbesondere der Russlanddeutschen. Auf zahlreichen Reisen in Richtung Osten knüpfte er nicht nur intensive Kontakte zu hohen hierarchischen Ebenen, sondern auch zu vielen einfachen Gemeindegliedern. Diese intensiven Verbindungen, gestützt auf beachtliche Sprachkenntnisse, waren Gerd Stricker immer ein Herzensanliegen.
Im Jahrbuch Kirche im Osten des Ostkirchen-Instituts betreute Gerd Stricker bis 1987 in der „Chronik. Aus dem kirchlichen Zeitgeschehen in Osteuropa“ das Kapitel „Aus der Russisch-Orthodoxen Kirche“. Hier leistete er in Recherche, Dokumentation und sachkundiger Analyse eine Pionierarbeit, auf die andere immer wieder gerne zurückgegriffen haben.
Die eigentliche Großtat seiner Münsteraner Zeit aber war die Gesamtredaktion des von Peter Hauptmann initiierten voluminösen Bandes Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), der 1988 zum Millennium der Taufe Russlands erschien. Die damals führenden Vertreter der ostkirchlichen Zunft waren zusammengebracht worden, um grundlegende Dokumente zur tausendjährigen Kirchengeschichte Russlands zu übersetzen, historisch einzuleiten und zu kommentieren. Gerd Stricker gelang es, dieses Mammut-Unternehmen und die Mitarbeitenden mit beharrlicher Zähigkeit erfolgreich zu moderieren. Nur wer es miterlebt hat, kann ermessen, was er damit leistete.
Die Verbindung Gerd Strickers zu den ehemaligen OKIanern riss nicht ab. Noch Ende April konnte ich dem Freund mit einigen Auskünften zur siebenbürgischen Geschichte dienen. Möge er nun die lang ersehnte Ruhe im Frieden des Allmächtigen finden: Have cara anima, lieber Weggefährte und Freund!
Prof. Dr. Peter Maser, Direktor des Ostkirchen-Instituts Münster 2001–2008
Zum ersten Mal begegnete mir Gerd Stricker während meines Studiums in Münster – nicht persönlich, aber als Autor. Wer sich mit der Russischen Orthodoxen Kirche in Geschichte und Gegenwart beschäftigte, kam um seine Beiträge nicht herum. Insbesondere dann nicht, wenn man mehr über die laufende kirchliche Entwicklung im postsowjetischen Russland erfahren wollte. Sein Beitrag „Das neue Religionsgesetz in Rußland“ in der Zeitschrift Osteuropa 7/1998 war geradezu ein klassischer Referenztext, wenn es um eine Einordnung des neuen Kirche-Staat-Verhältnisses in Russland ging.
Knapp zehn Jahre später sollte ich mit Gerd Stricker in der Redaktion der Zeitschrift Religion & Gesellschaft in Ost und West (damals noch: Glaube in der 2. Welt) zusammenarbeiten. Zu dieser Zeit war er bereits über zwei Jahrzehnte am Institut G2W tätig: zuerst als stellv. Chefredakteur und seit 2005 als Chefredakteur. Neben dem Redigieren von Beiträgen auswärtiger Autorinnen und Autoren war Gerd Stricker ein ausgesprochener Vielschreiber. Pro Jahr schrieb er mindestens fünf eigene Beiträge für die Zeitschrift G2W, neben weiteren Buchpublikationen und Veröffentlichungen in anderen Zeitschriften und Sammelbänden. Aufgrund der Redaktionsaufgaben konnte er mit dem Verfassen eigener Texte häufig erst im Laufe des Nachmittags beginnen und schrieb dann bis tief in die Nacht. Wichtig war ihm dabei stets ein klarer und präziser Ausdruck, weswegen er seine Texte bis zur Drucklegung oft mehrmals überarbeitete – nicht immer zur Freude der Layouter.
Thematisch reichte das Spektrum seiner Themen von der Russischen Orthodoxen Kirche im Zarenreich, in der Sowjetunion, in den postsowjetischen Staaten und in der Diaspora über die innerorthodoxen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Konstantinopel bis hin zur Situation der Katholiken und evangelischen Freikirchen auf dem Boden des Russischen Reichs. Mit besonderem Interesse verfolgte er, der seine evangelisch-lutherische Prägung nie verhehlte (in der DDR durfte er wegen seines kirchlichen Engagements nicht die Mittelstufe besuchen), die Entwicklung der lutherischen Kirchen im postsowjetischen Raum.
Gerd Stricker hat die Entwicklung der Zeitschrift maßgeblich geprägt. Vor inhaltlichen Auseinandersetzungen mit Kolleginnen und Autoren scheute er dabei nicht zurück, vielmehr war er streitlustig im besten Sinne des Wortes. Aber er konnte sich auch zurücknehmen und Freiraum schaffen, wie ich es selbst beim Generationsumbruch in der Redaktion miterlebt habe. Er vertraute uns Jüngeren und ließ uns machen. Trotz schmerzhafter Erkrankungen schaute Gerd Stricker auch nach seiner Pensionierung immer mal wieder im Institut vorbei und begann die Archivbestände zu ordnen. Wir werden Dich vermissen, treuer Freund und Kollege! Царство тебе Небесное!
Stefan Kube, Chefredakteur RGOW
Bibliographie von Gerd Stricker: Monographien und Artikel in G2W (ohne Rundschaubeiträge, Editorials und Kurzrezensionen) seit 1986. Ohne Beiträge in zahlreichen anderen Zeitschriften und Buchpublikationen.