„Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“ – Buchanzeige
Tamina Kutscher, Friederike Meltendorf (Hg.) / dekoder
„Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“. Kritische Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus
Berlin: edition.fotoTAPETA 2023, 222 S.
ISBN 978-3-949262-31-9. € 15.–; CHF 17.50.
„Der 24. Februar hat mein Leben in Stücke gerissen. In lauter kleine Fetzen. Trümmer. Die Raketenangriffe auf die Ukraine haben die Welt, in der wir lebten, zerstört. Entsetzen, Scham, Angst, Hass, das Gefühl in einem schlechten Traum zu sein, aus dem man aufwachen will und nicht kann“ (S.123). Diese Zeilen des russischen Lyrikers und Übersetzers Sergej Samoilenko stehen exemplarisch für den Schock und das Gefühlschaos vieler kritischer Journalisten und Kulturschaffender in Russland und Belarus angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, deren Stimmen das Online-Medium dekoder.org in diesem Buch versammelt hat. Chronologisch reichen die aus dem Russischen und Belarusischen übersetzten Beiträge (Interviews, Essays, Tagebucheinträge, Twitter- und FB-Posts) von Anfang März bis Dezember 2022. Sie zeigen, dass die kritischen Stimmen trotz aller Repressionen und dem im März 2022 erlassenen Zensurgesetz in Russland nicht verstummt sind, sondern sich neue Kanäle – neu gegründete Exilmedien und soziale Medien – gesucht haben.
Die Beiträge spiegeln das Ringen vieler Autor:innen wider, die grauenhafte Geschehnisse in Worte zu fassen, so schreibt die belarusische Autorin Julia Artjomowa: „Die Buchstaben presst du mühevoll aus dir heraus, weil es dir wie so vielen die Sprache verschlägt, deine Stimme ist heiser, aber immer noch da, und deswegen muss sie erklingen, ja muss. Daher kann ich diesen Text schlichtweg nicht nicht veröffentlichen“ (S. 154). Es ist wichtig, dass der Band auch viele Stimmen aus Belarus zur Sprache bringt, damit das Land, in dem 2020 Massenproteste gegen den Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenka stattfanden, angesichts des Krieges im Nachbarland nicht in Vergessenheit gerät. Noch immer sitzen zahlreiche Medienschaffende und Menschenrechtler in Belarus in Haft, darunter auch Ales Bjaljazki, der Friedensnobelpreisträger, der ebenfalls in einem Beitrag vorgestellt wird.
Die russische Invasion hat die Biographien der Autor:innen durcheinandergewirbelt: Viele von ihnen sind ins Ausland geflohen und müssen sich auf komplett neue Lebensumstände einstellen – eindrücklich beschreibt die russische Journalistin Xenia Louchenko die letzten Tage vor ihrer Ausreise aus Russland. Dennoch spricht aus keinem Beitrag die Klage über das persönliche Schicksal, sondern eher das Bewusstsein über die bevorstehenden Herausforderungen: „Wir sind es, die eine Entnazifizierung und Dekolonisierung Russlands brauchen,“ sagt der Journalist Wladimir Metjolkin im Schlusswort seines Gerichtsprozesses im April 2022. Die russischen und belarusischen Stimmen in diesem Band verdienen es, gehört bzw. gelesen zu werden!
Stefan Kube