The Moralist International – Buchanzeige

Kristina Stoeckl, Dmitry Uzlaner
The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars
(= Orthodox Christianity and Contemporary Thought)
New York: Fordham University Press 2022, 213 S.
ISBN 978-1531502157. € 31.99; CHF 47.90; eBook open access

Nichts vermag die Aktualität dieses Buches stärker zu betonen als Patriarch Kirills erste Rede nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine Anfang März 2022: Diesen unterstützt er damals wie heute als Verteidigung „der traditionellen Werte“ Russlands gegen „korrupte westliche Werte“. Kristina Stoeckl und Dmitry Uzlaner haben Kirills Kriegslegitimation mit ihrem mehrjährigen soziologischen Forschungsprojekt zur Rolle der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) in Gesellschaft und Politik Russlands sicher nicht prophezeit, doch bergen ihre Ergebnisse beträchtliches Erklärungspotential. Die Leitfrage, woher der ziemlich neue Diskurs um „traditionelle Werte“ eigentlich stammt (S. 29) – denn er lässt sich nicht direkt aus der russischen und sowjetischen Ideen- und Sozialgeschichte ableiten –, führt zur Hauptthese: „Der russische moralische Konservatismus ist eine Hybride aus nationalen Faktoren und Reflexionen der globalen Kulturkriege“ (S. 10). Er ist kein nationales, sondern ein transnationales Phänomen. Hierzu entwickeln die Autoren das Konzept eines „konservativen Aggiornamento“, das Moderne nicht nur mit Säkularisierung, Liberalisierung und Demokratisierung assoziiert, sondern auch mit einer konservativen religiösen Modernisierung, in deren Kontext sich das Moskauer Patriarchat zu einem Akteur der „moralistischen Internationalen“ entwickelt hat – und zwar paradoxerweise an der Seite und mit Hilfe der christlichen Rechten im Westen (S. 8). 

Zwei Teile widmen sich dem „Erlernen“ und dem „Umsetzen“ der „culture wars“ durch die ROK. Der erste Teil beschreibt den Einfluss der amerikanischen christlichen Rechten bis 1997 sowie zahlreiche weitere ideologischen Quellen, auch aus der Sowjetzeit, auf den zeitgenössischen russischen Konservatismus. Als Schlüsselfigur wird der russische Soziologe Pitirim Sorokin, Professor an der Harvard Universität, vorgestellt (v. a. sein Buch „The American Sex Revolution“, 1956). Im zweiten Teil werden Fallstudien zu den Beziehungen der ROK zu anderen Akteuren (Vatikan, Billy Graham Evangelistic Association), russische Zweige des World Congress of Families, der Pro Life- und Homeschooling-Bewegungen sowie die diplomatischen Bemühungen des russischen Staates im Rahmen einer konservativen Agenda präsentiert. 

„Mit der Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, hat Russland die Kulturkriege zu einem realen Krieg gemacht“ (S. 155). Das Buch präsentiert die ROK-Leitung als staatsnahe Mitgestalterin dieser Entwicklung, die andere Aspekte einer christlichen Zivilgesellschaft in Russland aus dem öffentlichen Diskurs der orthodoxen Kirche verdrängt hat.

Regula Zwahlen