RGOW 3/2018: Religion und Politik in der Ukraine
Während der Majdan-Proteste zeigten die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine eine beeindruckende öffentliche Präsenz und fanden zu einem neuen Miteinander. Vier Jahre später stellt sich die Situation deutlich ambivalenter dar: Im Zuge einer Politisierung der religiösen Sphäre treten einerseits alte Konkurrenzlinien – insbesondere innerhalb der ukrainischen Orthodoxie – wieder hervor, andererseits lässt sich seit dem Majdan eine konstruktive Zusammenarbeit von sozialen Nichtregierungsorganisationen mit und ohne religiösem Hintergrund verzeichnen. Auf theologischem Gebiet arbeiten Vertreter aller christlichen Konfessionen an einer "Theologie des Majdan", die auf eine stärkere Verortung der Kirche(n) in der ukrainischen Zivilgesellschaft zielt.
Weitere Themen sind das mediale Image des baptistischen Politikers Olexander Turtschynov, die Politisierung religiöser Praktiken bei den Krimtataren und die verstärkte Verwendung religiöser Begriffe und Symbolik durch ukrainische Politiker.
Inhaltsverzeichnis und Editorial
Leseprobe:
IM FOKUS
Wilfried Jilge: Durch die Brille der "Russischen Welt": Putins Sicht auf die Ukraine
UKRAINE
Tetiana Kalenychenko: Öffentliche Religion auf dem Kiewer Majdan
Mit ihrer Teilnahme an den Majdan-Protesten erlangten die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine neue öffentliche Präsenz, die in der ukrainischen Gesellschaft auf ein weitgehend positives Echo stieß. Doch die Erfahrung „ökumenischer Einheit“ währte nur kurz, zunehmend prägt wieder Konkurrenz das Zusammenleben der Kirchen. Eine positive Neuerung sind hingegen soziale Bewegungen, die auf religiöse Ressourcen zurückgreifen.
Mykhailo Dymyd: Die Theologie des Majdan
In Begleitung und Reaktion auf die Majdan-Proteste hat sich in der Ukraine eine „Theologie des Majdan“ entwickelt. In deren Zentrum steht die Erfahrung interreligiöser und interkonfessioneller Gemeinschaft auf dem Majdan über alle Grenzen der ukrainischen Gesellschaft hinweg. Als gesellschaftsbezogene Theologie ruft sie die Kirchen auf, als Teil der Zivilgesellschaft aktiv am Transformationsprozess des Landes mitzuwirken.
Sergii Bortnyk: Die gegenwärtige Situation der ukrainischen Orthodoxie
Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine sind die Spaltungen innerhalb der ukrainischen Orthodoxie nochmals deutlicher geworden. Der Staat fordert von den Kirchen eindeutige Loyalität. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat steht dabei häufig im Verdacht, ein verlängerter Arm Moskaus zu sein. Einerseits sieht sie sich mit Gesetzesentwürfen konfrontiert, die ihren Einfluss schwächen sollen, andererseits wird ihr Einsatz für den Austausch von Kriegsgefangenen geschätzt.
Mykhailo Cherenkov: Die Geschichte vom „blutigen Pastor“
Der bekennende Baptist Olexander Turtschynov zählt zu den bekanntesten Politikern in der Ukraine. Sowohl ukrainische wie russische Medien heben immer wieder prominent die Konfessionszugehörigkeit von Turtschynov hervor. Während russische Medien dabei das Feindbild des „blutigen Pastors“ kreieren, trägt die Berichterstattung ukrainischer Medien über den „Pastoren“ zur religiösen Toleranz in der ukrainischen Gesellschaft bei.
Olena Soboleva: Krimtatarische Religiosität: zwischen Privatem und Politik
Während der Sowjetzeit verlagerten sich viele religiöse Praktiken der Krimtataren in den Privatbereich. Die gemeinsamen Gebete wurden dabei vom ältesten Familienmitglied geleitet. Mit der Rückkehr der Krimtataren auf die Krim kam es im öffentlichen Raum zu einer religiösen Wiedergeburt. Seit der Annexion der Halbinsel durch Russland erhalten die ursprünglich privaten Gemeinschaftsgebete zusehends eine politische Dimension.
Alla Marchenko: Religiöse Rhetorik in Ansprachen ukrainischer Spitzenpolitiker
An staatlichen Feiertagen halten hochrangige Politiker in der Ukraine traditionell Ansprachen ans Volk. In ihren Grußbotschaften verwenden Politiker häufig religiöse Begriffe und Konzepte, ungeachtet dessen, ob es sich um einen religiösen oder säkularen Feiertag handelt. Sie wenden sich dabei meist allgemein an die Christen und appellieren an die gemeinsamen spirituellen Traditionen der Ukraine. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine hat sich die religiös aufgeladene Rhetorik noch verstärkt.