Politik, Gesellschaft und Kultur in Russland
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Maria Lipman: Demobilisierung um der Stabilität willen
Das Regime von Vladimir Putin garantiert sozialpolitische Stabilität, für die zentralisierte staatliche Kontrolle, wirtschaftliche Stagnation und die Einschränkung politischer Freiheiten in Kauf genommen werden. Die verschärften Repressionen seit 2012 gelten politischen Gegnern, NGOs und unabhängigen Medien. Die Krim-Annexion hat einen Staatsnationalismus etabliert, der Putins Legitimität als Verteidiger gegen äußere Feinde stärkt, aber auf privater Ebene keine strikte Anpassung verlangt. Der größte Unsicherheitsfaktor ist zurzeit die ungeklärte Nachfolge Putins.
Jens Siegert: Starker Staat oder Staatsversagen?
Russland erscheint als starker Staat mit Vladimir Putin an der Spitze, der in der Bevölkerung große Zustimmung genießt und die Geschicke des Landes nach Belieben zu lenken vermag. Putin hat den Staat dabei faktisch in einen „gewöhnlichen Staat“, in dem die Gesetze gelten, und einen „außerordentlichen“ Staat aufgeteilt, der der Führungselite als Ressourcenbasis dient. Die jüngste Brandkatastrophe im sibirischen Kemerowo zeigt die dramatischen Folgen dieser Politik: Der korrupte Staatsapparat reproduziert sich selbst und versagt bei der Behandlung primär staatlicher Aufgaben.
Ekaterina Sokur: Das neue NGO-Gesetz in Russland
Je nach Auslegung können die jüngsten Gesetzesänderungen im Gesetz über nicht-kommerzielle Organisationen in Russland als Versuch gelten, die staatliche Souveränität zu schützen oder die politische Opposition zu unterdrücken. Bisher hat sich noch keine unabhängige NGO freiwillig als „ausländischer Agent“ registrieren lassen. Dass sie dazu von der Staatsanwaltschaft gedrängt werden, verstärkt jedoch die Befürchtung, dass das Gesetz vor allem der Kontrolle der Opposition dient.
Regula Spalinger: Drei Jahre NGO-Agentengesetz – eine Bestandsaufnahme
Das vor drei Jahren von der russischen Duma verabschiedete Gesetz über die nicht-kommerziellen Organisationen („NGO-Agentengesetz“) ist im letzten Jahr noch einmal verschärft worden. Zahlreiche NGOs wurden durch eine beispiellose Überprüfungswelle durch die staatlichen Behörden in ihrer Arbeit behindert. Mittlerweile sind über 50 NGOs in das sog. „Register der ausländischen Agenten“ eingetragen. Dazu zählen auch die „Soldatenmütter von St. Petersburg“, eine Partnerorganisation von G2W. [Beitrag von 2015]
Alexander Bikbov: Offizieller Traditionalismus und Protestalternativen in Russland
Das gegenwärtige russische Regime zeichnet sich durch eine Kombination von traditionalistischer Rhetorik und neoliberalen Verwaltungspraktiken aus. Diese Kombination lässt wenig Raum für alternative gesellschaftliche Projekte und hat zum Scheitern der russischen Protestbewegung beigetragen. Diese artikulierte in erster Linie individuelle Bedürfnisse nach einer Normalisierung der bestehenden Institutionen und weniger konkrete sozialpolitische Forderungen.
Ulrich Schmid: Repression, Kritik und patriotisches Engagement
Die Kulturlandschaft Russlands ist wie die russische Gesellschaft von tiefen Gräben zwischen Befürwortern und Kritikern der Regierungspolitik durchzogen. Skandale um Theater- und Filmaufführungen sowie ein Gerichtsprozess gegen den Theaterregisseur Kirill Serebrennikov machen Schlagzeilen. Im Westen weniger bekannt ist die gezielte Propaganda der staatlichen (Geschichts-)Politik durch populäre TV-Serien. Der aufgeheizten Atmosphäre können sich auch politisch distanzierte Künstler kaum entziehen.
Mikhail Kaluzhsky: Kunst in Russland: Chronik einer verlorenen Freiheit
Die Möglichkeit, sich in der Kunst frei und kritisch zu äußern, hat in Russland in den letzten Jahren markant abgenommen. Zu verdanken ist diese Entwicklung einer losen Allianz von orthodoxen Aktivisten, staatlichen Stellen und vereinzelten Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche. Durch Änderungen der Gesetzgebung führt die Regierung heute einen „hybriden Krieg“ gegen Andersdenkende, Oppositionelle und Künstler, der zunehmend zur Selbstzensur führt.