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Stalinismus-Kontroverse ergreift Russische Kirche

30. November 2009

In der öffentlichen Meinung in Russland wird Stalin heute - unterstützt durch Statements von Politikern, nicht zuletzt von Vladimir Putin - oft eher als heldenhafter Sieger des «Großen Vaterländischen Krieges» gesehen denn als menschenverachtender Diktator. Die Debatte um die Bewertung der Stalin-Ära wird auch innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche geführt.

Patriarch Kirill I. und der Leiter des Kirchlichen Aussenamtes, Erzbischof Ilarion (Alfeev), haben in diesem Sommer die Verbrechen der Stalin-Ära deutlich verurteilt. Gegenwärtig wird jedoch um ein Buch gestritten, das Erzpriester Georgij Mitrofanov, Professor für Kirchengeschichte an der Geistlichen Akademie St. Petersburg, im Mai 2009 veröffentlicht hat. Es trägt den Titel «Tragödie Russlands - ‹verbotene› Themen der Geschichte des 20. Jh.s».

In den Mittelpunkt des Buches stellt der Autor die umstrittene Figur des Generals Andrej Vlassov, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Einheiten der «Russischen Befreiungsarmee» (ROA) leitete und unter dem Kommando der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfte. Das Werk erschien vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler- Stalin-Paktes am 23. August 1939. Die OSZE hatte vorgeschlagen, den 23. August als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und Stalinismus einzuführen. Der Leiter der russischen OSZE-Delegation, Alexander Koslovskij, erklärte daraufhin, eine Gleichstellung des Nazi-Regimes mit dem politischen Regime der UdSSR, das «den entscheidenden Beitrag zur Zerstörung des Faschismus geleistet hat», sei «eine Verhöhnung der Geschichte». Entsprechend dieser Lesart sind all jene ca. 800 000 Angehörigen der Roten Armee, die sich während des Zweiten Weltkrieges der Wehrmacht ergaben oder später auf deren Seite gegen die Sowjetunion kämpften, Landesverräter und Kollaborateure.

Mitrofanov propagiert eine Korrektur dieses vereinfachenden Bildes. Er beruft sich darauf, dass viele Russen gerade zu Beginn des Krieges hofften, die Deutschen würden sie vom Stalinschen Terror befreien. Ein Teil von ihnen sammelte sich in der Russischen Befreiungsarmee (ROA) unter dem Kommando General Vlassovs. Andrej Vlassov (1901-1946), Generalleutnant der Roten Armee, geriet im Juli 1942 in deutsche Gefangenschaft, wo er für eine Zusammenarbeit und den Aufbau einer antikommunistischen «Russischen Befreiungsarmee» gewonnen wurde. Im Februar 1945 übernahm er deren Oberbefehl; im Mai wurde er von den Sowjets festgenommen und im August 1946 wegen Landesverrats und Spionage hingerichtet. Für Erzpriester Mitrofanov ist General Vlassov eine tragische Gestalt, er sieht in ihm und der ROA Opfer des Stalinregimes.

Diese Neubewertung löste einen Sturm der Entrüstung aus: Die Nachrichtensendung «Vesti+» des staatlichen Fernsehsenders «Rossija» bezichtigte den Priester - sowie einen weiteren Geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche - am 8. Juli «antipatriotischer Stimmungsmache». Auch innerhalb der Kirche wurde Mitrofanov gemaßregelt: Am 6. August wurde er ohne Angabe von Gründen seines Amtes als Mitglied der Kanonisierungskommission seiner Eparchie enthoben. Mitrofanovs schärfste Kritiker wirken an den Geistlichen Akademien in St. «religiösen Extremismus» verdächtigt werden. Einige Aufmerksamkeit erfahren hat der Fall der tatarischen Studentin Dina Amirova und ihres Mannes, über den die Internetseite «Portal-Credo.Ru» im Sommer dieses Jahres berichtete: Seinen Anfang nimmt dieser Fall bereits im Petersburg und Moskau und am Seminar von Odessa. Diakon Vladimir Vasilik von der Geistlichen Akademie St. Petersburg erklärte, Mitrofanov beleidige nicht nur das Andenken der Gefallenen und der Veteranen, sondern richte sich auch gegen die kirchliche Tradition: «Für uns ist der 9. Mai nicht nur ein weltlicher, sondern in erster Linie ein kirchlicher Feiertag, ein Tag des Gedenkens der Krieger, die ihr Leben für Glaube und Vaterland hingaben, sowie der Leidenden, von den Nazis Ermordeten». Für viele Agnostiker sei das gemeinsame Feiern des 9. Mai durch Kirche und Staat eine zusätzliche Möglichkeit, in die Kirche einzutreten. Mitrofanovs Buch, in dem die Feiern des 9. Mai als «pobedobesie» (in etwa: dämonischer Siegesrausch) bezeichnet würden, führe dagegen zum Zerwürfnis zwischen Kirche und Staat und spalte deren Beziehungen.

Andere Stimmen verteidigen die Sicht des Autors und zeihen seine Angreifer des «Stalinismus ohne Stalin» und der Hysterie. Die Russische Auslandskirche dankte dem Priester in einem offenen Brief am 1. September für sein Werk, das Russland vor entscheidende Fragen stelle und es von «engen und verzerrten Vorstellungen» befreie: Der Historiker und Priester fürchte sich nicht, Themen anzuschneiden, die seit langem «tabu» seien. Indem er über den geistlichen Widerstand gegen den Bolschewismus und seine theologische Fundierung schreibe, entlarve er Unzulänglichkeiten und Gefahren der in Russland vorherrschenden Sicht auf die Stalinzeit.

www.portal-credo.ru, Juli-September 2009; www.faz.net, 20. Mai 2009 - O.S.

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