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Wirtschaftskrise verschärft soziale Missstände in Lettland

28. September 2009

Die Wirtschaftskrise hat Lettland hart getroffen und verstärkt die sozialen Probleme, die auch fünf Jahre nach dem EU-Beitritt noch bei weitem nicht gelöst sind: Die Arbeitslosenrate liegt je nach Region zwischen 7 und 23 %, ist jedoch im ersten Quartal 2009 weiter rapide angestiegen.

Das Hauptproblem liegt jedoch eher bei den Sozialversicherungen, die überwiegend nicht existent sind: Arbeitslosengeld kann nur maximal neun Monate bezogen werden; die Höhe liegt deutlich unter dem Mindestlohn. Auch diejenigen, die Arbeit haben, leben oft unter der Armutsgrenze. Pastor Martin Grahl widmet sich in einer ausführlichen Analyse der Notwendigkeit einer «sozialen Wende» in Lettland, an der die Kirchen stärker als bisher mitarbeiten müssten. Er schreibt: «In Lettland ist noch heute zu spüren, worin eines der (bisher zu wenig beschriebenen) Unrechtskapitel im ‹real existierenden Sozialismus› bestand: Im Umgang mit sozial Schwachen. [...] Es gibt viel zu wenig Sozialwohnungen: 14 000 Anträge darauf seien allein in Riga gestellt, wurde mir in einem Amt gesagt. [...] Der Staat verfügt nicht über genügend Steuermittel, um der Situation gerecht zu werden. Die einzelnen Bürger sind überwiegend unterversichert, so dass z. B. das Gesundheitswesen auch kaum saniert werden kann. [...] Je nach den finanziellen Möglichkeiten der Patienten fällt die Behandlung aus. Reformen mit Einsparung von kostenintensivem Personal im Gesundheitswesen würden einen weiteren Schub an Arbeitslosigkeit bedeuten. Der Staat befindet sich in einem Dilemma, das sich durch die Finanzkrise dramatisch zuspitzt: Die Regierung kann es sich nicht leisten, einen Sozialstaat anzubieten. [...]

Der Gesellschaft fehlen - eine Spätfolge der langen Diktatur - gemeinsame Werte wie soziale Verantwortlichkeit. Es ist die Frage, wer diese Zielvorstellungen entwickeln und für sie eintreten könnte. Sozialkunde bzw. Religion wird in den Schulen nur für bestimmte Klassenstufen angeboten [...] Die ‹Integration› der russischsprachigen Bevölkerung [die fast 40 % der Gesamtbevölkerung stellt - Anm. G2W] ist nicht gegeben, zumal ihr beständig signalisiert wird, sie gehöre nicht hierher. [...] Es gibt zwar schon Selbsthilfegruppen, Ansätze für ein soziales Netz z. B. in Kirchgemeinden, oder hin und wieder entsprechende Themen in den Medien, aber in der Gesellschaft noch keine breite Basis für soziales Engagement. [...] Die ‹Wende› zur Demokratie ist noch nicht mit politischer Unabhängigkeit von der Okkupationsmacht und der äußeren Mitgliedschaft in der EU vollzogen. Die soziale Wende, ohne die es keine Demokratie gibt, schleppt nach. [...] Die Kirchen, die eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Spannungen und bei der Entwicklung einer verbindenden sozialen Vision spielen könnten, werden dieser Aufgabe noch nicht gerecht. Die lutherische Kirche konzentriert sich [...] auf Moralstandards für ihre Mitglieder, nicht aber auf gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Diakonie ist ihrer Verfassung nach ausgerichtet auf innergemeindliche Solidarität. Das ist schon ein wichtiger Schritt, aber er ist unzureichend und wird unserem Auftrag als Kirchen nicht gerecht. [...]»

Ilze Kolma, die in Riga einen kostenlosen medizinischen Notfall- und Betreuungsdienst für Bedürftige koordiniert, berichtet, dass auch vorbildliche kirchliche Projekte von der Krise schwer betroffen sind: «Seit etwa 16 Jahren bemüht sich unser Team, das aus ehrenamtlich arbeitenden Krankenschwestern und Ärzten aus unserer Kirchgemeinde besteht, der notleidenden Bevölkerung zu helfen. [...] In den letzten Monaten hat sich die Situation im Land erheblich zugespitzt. [...] Arbeitsstellen werden gestrichen, sogar im staatlichen Bereich, und die Gehälter wurden überall minimiert. [...] Wir haben in unserem Land weder Kirchensteuer noch staatliche Hilfeleistungen für kirchlich- soziale Einrichtungen. So sind wir nun voll und ganz auf Spenden vor allem aus dem Ausland angewiesen.»

Nach einem Bericht von Johannes Baumann vom 16. Juli 2009 - R.C.

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