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Neue Aufgaben und große Verän­derungen beim Fonds „Diakonia“

Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Rydalevskaja

Das Ausbildungsprogramm des „Fonds Diakonia“, der zu den renommiertesten Organisationen für Suchtprävention und -therapie in Russland zählt, befindet sich im Ausbau. Aufgrund der großen Nachfrage nach Therapieplätzen ist der Fonds zudem dabei, eines seiner beiden Rehabilitationszentren auszubauen. Die Außenarbeiten sind abgeschlossen, aber für den Innenausbau bedarf „Diakonia“ noch finanzieller Unterstützung.

G2W: Welche Ziele hat sich der Fonds „Diakonia“ für dieses Jahr gesetzt?
Elena Rydalevskaja: Ende 2017 hat sich die Abteilung für soziale Wohltätigkeit der Eparchie St. Petersburg mit der Bitte an uns gewandt, in Zukunft als Koordinationszentrum für Menschen in Not zu wirken. Wir haben uns entschieden, diese Aufgabe anzunehmen. Dazu haben wir im Nachbargebäude unseres Büros einen Lagerraum zugewiesen erhalten, wo wir gespendete Schuhe, Kleider und haltbare Lebensmittel zwischenlagern und von dort an die bedürftigen Personen verteilen können. Die neue Aufgabe schließt sich an unsere Obdachlosenhilfe, die HIV/AIDS-Prävention und unsere soziale Straßenarbeit unter Süchtigen an.

Mit Blick auf unsere beiden Rehabilitationszentren in Poschitni (Region Pskov) und Sologubovka (50 km von St. Petersburg entfernt) prüfen wir regelmäßig, ob und wie wir unser Programm weiter verbessern können. So haben wir unsere Arbeitsmappen für die Neuauflage mit zusätzlichen Kapiteln ergänzt, u. a. zum wichtigen Thema der Rückfallprophylaxe. Außerdem haben wir Anfang 2018 die Funktion eines „Leitenden Konsulenten“ (Beraters) in den Rehabilitationszentren eingeführt. Dieser koordiniert und kontrolliert die Dokumentationen der anderen Konsulenten – ehemalige Abhängige, die das Reha-Programm erfolgreich abgeschlossen haben und den jetzigen Rehabilitanden beratend zur Seite stehen. Durch den Leitenden Berater können wir den individuellen Plänen jedes Rehabilitanden noch mehr Aufmerksamkeit schenken.

Die abschließende Phase der Rehabilitation bildet das sechsmonatige betreute Wohnen in St. Petersburg. An der jetzigen Adresse sind die Platzverhältnisse aufgrund der gestiegenen Zahl von Rehabilitanden jedoch so eng geworden, dass wir mit der Stadt im Gespräch sind. Wir bemühen uns, dass wir von der Stadt eine größere Wohnung zu ermäßigter Miete zugesprochen bekommen (wie für wohltätige Institutionen gesetzlich vorgesehen). Verschiedene Persönlichkeiten, u. a. der Leiter der Kommission zur Drogenbekämpfung im Zentralen Stadtbezirk, haben dazu Unterstützungsschreiben verfasst.

„Diakonia“ schult auch andere russische Reha-Zentren für Suchtkranke und arbeitet eng mit verschiedenen Partnern in der HIV/AIDS-Prävention zusammen. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Dieses Jahr erhalten wir von der staatlichen „Stiftung der Präsidentenzuschüsse“ finanzielle Unterstützung für unsere Weiterbildungsseminare in verschiedenen Regionen Russlands. Die bei diesem Fonds einzureichenden Anträge müssen aufwendig dokumentiert werden und sind längst nicht jedes Jahr erfolgreich. Wir können dank dieser Mittel 2018 unsere Reisen zu ähnlichen Rehabilitationszentren – von Kaliningrad bis Sachalin – finanzieren, dort Weiterbildungsveranstaltungen durchführen und einzelne Fachleute mittels Praktika bei uns schulen. Zum Abschluss solcher Praktika prüfen wir die erworbenen Kenntnisse und stellen Zertifikate aus, wofür wir als akkreditiertes Zentrum von der Stadt St. Petersburg die Bewilligung haben.

Auch die Zusammenarbeit mit dem St. Petersburger AIDS-Zentrum, einer städtischen Einrichtung, hat sich intensiviert. In diesem Jahr sollen wir in dessen Auftrag nicht weniger als 5 000 Personen bezüglich einer HIV-Infektion testen. Das AIDS-Zentrum hat uns gebeten, ab März die Insassen des neu errichteten Untersuchungsgefängnisses der Stadt auf eine mögliche HIV-Erkrankung hin zu testen. Das Virus ist unter Häftlingen, die u. a. wegen Drogendelikten/-konsum verurteilt sind, leider sehr verbreitet.

Und nicht zuletzt unterrichten einige unserer Mitarbeitenden an der Fachhochschule RHGA („Russische Christliche Humanistische Akademie“). Viele unserer Konsulenten absolvieren dort eine Aus- oder Weiterbildung, z. B. in Psychologie oder als Sozialarbeiter. Alle unsere ehemaligen Rehabilitanden, die zu Mitarbeitern geworden sind, bilden sich weiter.

Wie weit ist der Umbau des Rehabilitationszentrums in Poschitni vorangeschritten?
Falls es uns gelingt, dieses Jahr den Erweiterungsbau am Haupthaus abzuschließen, haben wir sechs zusätzliche Therapieplätze in Poschitni zur Verfügung. Der Bau des neuen zweiten Stockwerks wurde im Herbst 2017 mit der Errichtung des Dachstuhls und der Kuppelsetzung über der kleinen Hauskirche abgeschlossen. Metropolit Evsevij (Savvin) von Pskov hat Kuppel und Kreuz am 20. November 2017 gesegnet. Viele Bauarbeiten wurden durch die lokalen Rehabilitanden unter fachlicher Anleitung ausgeführt. Zu ihrer Unterstützung reisen regelmäßig einzelne Absolventen unseres Programms aus St. Petersburg an, die über berufliche Erfahrung in verschiedenen Bereichen des Innenausbaus verfügen. Für ihre Arbeit werden sie von uns bezahlt; diese Form der verantwortungsvollen Mitarbeit schätzen sie sehr. Vater Alexej, der Geistliche, der unser Zentrum in Poschitni betreut, hat bereits Spender für alle Ikonen gefunden, die später die Hauskirche schmücken sollen. Bis zum Herbst 2018 hoffen wir, alle Arbeiten an den Wohnräumen (Schlafzimmer der Rehabilitanden, Küche und Aufenthaltsraum, sanitäre Einrichtungen) abzuschließen, so dass unsere Rehabilitanden, die jetzt in einem Nebengebäude in engen Verhältnissen wohnen, in das Hauptgebäude zurückkehren können. Für den weiteren Innenausbau sind wir noch auf der Suche nach finanzieller Unterstützung.

Im Februar haben Sie Rehabilitationseinrichtungen für Suchtkranke im Kanton Zürich besucht. Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede sind Ihnen zur Arbeitsweise von „Diakonia“ aufgefallen?
Gemeinsam sind die Art und Weise, wie man dem Menschen begegnet, der Hilfe sucht. Dazu gehört der Wunsch, ihm ein Gefühl der eigenen Würde zu geben, von Selbstwert und Achtung. Wie bei uns habe ich das Bestreben gespürt, eine warme, freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen, ohne paternalistischen Anflug im Stil von: Mach es so, wie ich es Dir gesagt habe! In beiden besuchten Zentren (Stiftung Ancora-Meilestei und das „Sunedörfli“ der Sozialwerke Pfarrer Sieber) war spürbar, dass auf christlicher Basis gehandelt wird. Für die Mitarbeitenden, die selbst Christen sind, ist ihre Tätigkeit mehr als nur eine Arbeit, sie sind ganz für die aufgenommenen Menschen da.

Zu den Unterschieden: In der Schweiz wird aus einer humanistischen und auf das Individuum ausgerichteten Position heraus gehandelt. Falls ein Süchtiger es nicht schafft, ohne Drogen zu leben, ist die Methadon-Abgabe eine Option. So können in der Schweiz durchaus Personen ohne Drogenkonsum und solche mit Methadon-Substitution in einem Zentrum leben. Russland dagegen ist ein Land der Kontraste, in dem es Übergangsfarbtöne schwer haben. In der Schweiz wird vieles über Gesetze und eingespielte Bestimmungen, durch eine vernünftige Einrichtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens geregelt. In Russland ist dies ganz anders: dort können sich die Menschen viel weniger auf bestimmte eingespielte Mechanismen verlassen. Russland ist ein Land der persönlichen Beziehungen. Ich habe eine Russin in der Schweiz getroffen, die ich aus der gemeinsamen Kinderzeit in St. Petersburg kenne, und die hier alles weiter nach russischem Prinzip regelt, d. h. überall muss sie sich auf persönliche Bekannte verlassen können, im Bereich der Justiz, im Gesundheitswesen, etc. In Russland kann man in der Regel nicht zu irgendeinem Doktor oder Juristen gehen, das ist „eine gefährliche Sache“. Man muss persönliche Bekannte haben. Beziehungen sind in Russland die erste Quelle für Freude wie für Zuverlässigkeit. Und weil so alles auf Beziehungen beruht, müssen wir den Rehabilitanden viel strengere Grenzen setzen als in der Schweiz. Ein Halb-Halb beim Drogensüchtigen führt in Russland fast unweigerlich zu naiven Träumen. In Russland ist durch die äußeren, häufig sehr harten Umstände des Lebens die Rückkehr in eine Komfortzone nicht möglich. Deshalb ist das Verlassen der Sünde (in Form des Drogenkonsums) und die Hinwendung zum Mitmenschen und zu Gott bei uns eine derart wichtige Voraussetzung für ein gesundes und glücklich geführtes Leben. Der Dienst an den anderen wird dadurch bei uns Bestandteil des nüchternen Lebens.

pdfRGOW 4-5/2018, S. 52-53

Bild: Fonds Diakonia