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Rückkehr ins Leben - Begleitung von Suchtkranken in Russland

Regula Spalinger

Drogensucht ist in Russland nach wie vor ein großes Problem. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Drogensüchtige auch HIV-Patienten sind. Der Verein „Rückkehr“ und der Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg haben professionelle Betreuungs- und Rehabilitationsprogramme entwickelt und setzen sich für eine wirksame HIV-Strategie ein. Während sich „Rückkehr“ in den jüngster Zeit auf die Schulung von Ärzten und Pflegepersonal spezialisiert hat, hilft „Diakonia“ Drogenabhängigen bei dem Ausstieg aus der Sucht.

Heute existieren im Umfeld der Russischen Orthodoxen Kirche etwa 30 Organisationen, die sich der Rehabilitation von Drogensüchtigen widmen. Zu den Pionieren der ersten Stunde und zu den Impulsgebern bei der Entwicklung eines professionellen Betreuungs- und Rehabilitationsprogramms für Suchtkranke zählen der Verein „Rückkehr“ und der Fonds „Diakonia“

Sozialmedizinische Betreuung von Drogenpatienten
Der Verein „Rückkehr“ in St. Petersburg betreut Drogenpatienten sozial und medizinisch. Der Verein stand von Beginn an unter der Leitung von Dmitrij Ostrovskij, eines Drogenfachmanns, der sich seit Jahren für eine vernünftige HIV-Strategie in Russland einsetzt. „Rückkehr“ widmet sich in jüngster Zeit der Weiterbildung von medizinischem Personal an Kliniken für AIDS und andere Infektionskrankheiten, beispielsweise Tuberkulose. Die dort wirkenden Fachärzte, das Pflegepersonal, Psychologen und Sozialarbeiter sind ohne fachliche Weiterbildung einer enormen Mehrfachbelastung ausgesetzt. Denn ihre HIV-Patienten sind erfahrungsgemäß zu etwa 80% auch drogensüchtige Kranke. Deren Behandlung setzt auf der einen Seite vertieftes medizinisches Wissen voraus, andererseits aber auch soziale und psychologische Kompetenzen, nicht zuletzt weil viele von ihnen während der Behandlung sterben. In Russland wird diesen Problemen in der fachlichen Ausbildung und auf staatlicher Seite bislang kaum Rechnung getragen. Burnout-Erkrankungen des Pflegepersonals sind deshalb keine Seltenheit.

Der Verein „Rückkehr“ hat aus diesem Grund eigene Weiterbildungsseminare entwickelt, die in vier Regionalkliniken durchgeführt werden: in St. Petersburg, Jekaterinburg (Hauptstadt des Gebiets Sverdlovsk im Ural), Magnitogorsk (Südural) und Barnaul (Südwestsibirien). Diese Städte liegen in den drei Gebieten mit den höchsten HIV-Raten in Russland. Insgesamt waren Ende 2012 in Russland 720014 HIV-Patienten, darunter 6411 Kinder, registriert. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies eine Zunahme um 10,7%. Neu infiziert haben sich fast 70000 Menschen. Zudem starben 10,4% mehr Patienten an AIDS als 2011. Bis Oktober 2013 stieg die Zahl der HIV-Infizierten in ähnlich dramatischem Ausmaß weiter an. Wie der Chef des Russischen Zentrums zur Aids-Bekämpfung, Wadim Pokrowski, mitteilte, waren zu diesem Zeitpunkt 780000 HIV-Patienten registriert. Darin nicht mitberücksichtigt ist die unbekannte Dunkelziffer derjenigen, die sich aus finanziellen oder anderen Gründen nicht medizinisch behandeln lassen können oder wollen.

Wie alles begann
Die zweite Partnerorganisation von G2W, die sich in der Begleitung von Suchtkranken engagiert, ist der Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg, der zwei Rehabilitationszentren in den Dörfern Poschitni und Sologubovka unterhält. Geleitet wird der Fonds durch die Drogenärztin Elena Rydalevskaja.

Der Fonds „Diakonia“ und der Verein „Rückkehr“ ergänzen sich heute komplementär. Ursprünglich gingen jedoch ihre Begründer die ersten Schritte gemeinsam: Ende der 1980er Jahre lernten sich die Ärztin Elena Rydalevskaja und Dmitrij Ostrovskij bei einer Veranstaltung kennen; unter ihrer Mitwirkung entstand bald darauf im damaligen Leningrad die erste Organisation, welche Drogensüchtigen beim Ausstieg half – der Verein „Rückkehr“. Kurze Zeit später schloss Elena Rydalevskaja ihre Zusatzausbildung zur Drogenfachärztin ab. Eine weitere Verbindung der beiden Fachleute war der vorübergehende Betrieb des Zentrums „Melnitschnyj rutschej“ für ausstiegswillige Drogensüchtige. Den „ersten Schritt ins Leben“ nannten später viele Ehemalige dieses Rehabilitationszentrum. 1991 entstand auf Initiative orthodoxer, katholischer und evangelischer Kirchgemeinden in St. Petersburg der Fonds „Diakonia“, dem Elena Rydalevskaja noch heute vorsteht.

In den frühen 1990er Jahren besuchten Rydalevskaja und Ostrovskij häufig eine kleine Kirchgemeinde der Eparchie Ivanovo-Voznesensk in Zentralrussland, wobei ein fruchtbarer Erfahrungsaustausch mit den hiesigen Mönchen mit Abt Mefodij (Kondratiev) an der Spitze entstand. Mefodij, der heutige Leiter des Koordinationszentrums der Russischen Orthodoxen Kirche zur Bekämpfung der Drogensucht, erinnert sich: Die beiden Gäste tauchten bei ihren Besuchen in das christlich-kirchliche Leben ein, die Mönche hingegen erhielten von ihnen neue Informationen über Drogensucht und Drogenkranke. Gemeinsam dachten wir darüber nach, wie die Kirche drogenabhängigen Menschen helfen könnte. 1992 kam ein erster Rehabilitand in die Gemeinde. Er lebte mehrere Monate mit den Mönchen zusammen und hinterließ bei ihnen einen bleibenden Eindruck.

Später, besonders seit der russischen Rubel- und Wirtschaftskrise 1998, stießen mehr Suchtkranke hinzu, so dass die Zahl der Betreuungsplätze für junge Männer, die bei der Land- und Hauswirtschaft der Mönche mithalfen, wuchs. Die Mönche ihrerseits begannen, sich in die psychologischen und medizinischen Zusammenhänge der Drogensucht zu vertiefen, sowie erfolgreiche Therapieansätze nach dem international anerkannten 12-Punkte-Programm anzuwenden. Ein reger Austausch mit anderen russischen Rehabilitationszentren begann und in der Gemeinde selbst wurden Seminare durchgeführt. „Zunächst wollten wir uns damit nicht befassen“, berichtet Abt Mefodij, „doch durch die Vorsehung Gottes wurden wir zu dieser Tätigkeit geführt“. Abt Mefodij hält bis heute Kontakt zu Rydalevskaja und Ostrovskij und besucht regelmäßig „Diakonia“ und weitere Rehabilitationseinrichtungen in St. Petersburg.

Schulung von Ärzten und Pflegepersonal
Der Verein „Rückkehr“ hat in der Region St. Petersburg, im Ural (Jekaterinburg und Magnitogorsk) und in Südwestsibirien (Barnaul) berufsübergreifende Kompetenzgruppen geschaffen, die sich Fragen um eine optimierte medizinische Behandlung und psychologische Betreuung von drogenabhängigen HIV-Infizierten widmen. Bei den Schulungen in Spezialkliniken wird das Pflegepersonal in simulierten, aus der Praxis entnommenen Situationen an kritische Punkte im Umgang mit den Patienten herangeführt. Gesprächstechniken werden vorgestellt und anschließend eingeübt. Die Kursteilnehmer, Fachleute verschiedener Berufssparten (Infektiologie, Pflege, Sozialarbeit, Psychologie), nehmen an den Rollenspielen teil. Nach jedem Patientengespräch findet im Plenum eine geführte Diskussion statt. Die Videos aus den Seminaren können anschließend von den Teilnehmern zur weiteren Schulung an ihre Kliniken mitgenommen werden.

In diesem Jahr möchte Dmitrij Ostrovskij vermehrt zentrale Schulungen in St. Petersburg durchführen. Dazu fanden bereits erste Gespräche mit dem Leiter des Prophylaxe-Zentrums für AIDS und Infektionskrankheiten des Leningrader Gebiets, Dr. Andrej Kovelenov, statt. Dieser steht einer solchen Zusammenarbeit positiv gegenüber und erklärte bei einem gemeinsamen Treffen Ende Oktober 2013, dass die Seminarräume seines Zentrums gerne in Zukunft für solche Weiterbildungen genutzt werden können.

Der Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg
Der Fonds „Diakonia“ wendet in seiner Rehabilitation von Drogenpatienten eine adaptierte Version des international anerkannten 12-Schritte-Programms an. Während des Aufnahmestadiums wird mit dem Drogenabhängigen und seinen engsten Angehörigen beratend in St. Petersburg gearbeitet. Im zweiten stationären Stadium halten sich die Patienten zuerst im Rehabilitationszentrum in Poschitni in der Region Pskov auf, wo sie über die Mitarbeit in der angegliederten Landwirtschaft, bei der Betreuung der Tiere und der Mithilfe in Küche und Haushalt zur Selbstversorgung beitragen. Gleichzeitig werden sie von fachlichen Betreuern (Sozialarbeitern, Psychologen und Geistlichen) begleitet und lernen ein neues Selbstwertgefühl. Praktische Hilfe untereinander im Alltag und gegenseitig geäußerte Wertschätzung (in Tagebucheintragungen und bei regelmäßigen Gruppentreffen) bilden für den Einzelnen wie die Gruppe ein stärkendes Fundament. Regelmäßig findet auch ein Austausch mit den Mönchen des Klosters aus dem Nachbarort Punschkinskie Gory statt. An Feiertagen besuchen die Patienten die Gottesdienste im Kloster und haben die Gelegenheit, seelsorgerische Gespräche mit den Mönchen zu führen. Diese besuchen im Gegenzug auch häufig das Zentrum.

Von Poschitni kommen die Rehabilitanden nach einer individuell bestimmten Zeit von mindestens einem halben Jahr ins Rehabilitationszentrum nach Sologubovka, das mit 70 km nicht mehr ganz so weit von St. Petersburg liegt. Anschließend bietet der Fonds „Diakonia“ den Patienten einen weiteren Aufenthalt in einer der durch ihn gemieteten Sozialwohnungen in St. Petersburg an. In diese können bis zu acht Personen aufgenommen werden. Auch während dieser dritten Etappe werden die Patienten fachlich und beratend durch die Mitarbeiter von „Diakonia“ begleitet, z. B. bei der Stellen- und Wohnungssuche. Dort, wo es die Umstände erlauben, kehren manche Patienten anschließend in ihre Familien zurück. Der Kontakt zu den Absolventen des Rehabilitationsprogramms wird jedoch auch danach aufrechterhalten: Jedes Jahr im Herbst findet ein Fest mit den Ehemaligen statt, das zu einem freudigen traditionellen Ereignis geworden ist.

Zwei Drittel aller ehemals Drogensüchtigen können sich dank der Arbeit des Fonds „Diakonia“ wieder erfolgreich ins Leben eingliedern und gesunden, was im nationalen und internationalen Vergleich eine sehr hohe Rate darstellt. Beide Rehabilitationszentren, das ältere in Poschitni und das im Jahr 2012 neu eröffnete in Sologubovka, sind momentan ausgelastet. Neben dem fachlichen Team engagieren sich auch ehemalige, erfolgreiche Absolventen des Rehabilitationsprogramms und ein großer Kreis freiwilliger Helfer und sind zu eine unverzichtbaren Stütze des Fonds „Diakonia“ geworden.

Mit großer Dankbarkeit nehmen die Patienten die Unterstützung durch G2W wahr. Als ich im vergangenen Herbst das Zentrum in Poschitni mit den angegliederten Landwirtschaftsflächen besuchte, schloss einer der Rehabilitanden seine spontane Rede einfach und berührend: „Ganz riesigen Dank für Eure Hilfe. Denn wir möchten leben!“ Und es war aus seinen und den Dankesworten der anderen Patienten zu hören, in welch umfassendem Sinn sie dieses neue Leben schon hier erfahren haben.

pdfRGOW 2/2014, S. 28-29

Bild: Fonds Diakonia