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Hilfe für die ganze Familie

Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Rydalevskaja und drei Müttern ehemals Drogensüchtiger

Der Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg ist eine der erfolgreichsten Institutionen im Bereich der Drogenrehabilitation in Russland. Zur Unterstützung und Beratung von Fachleuten und Laien aus verschiedenen russischen Städten hat „Diakonia“ 2015 in Sologubovka ein Weiterbildungszentrum eröffnet. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Gesprächsgruppen für die Angehörigen der Rehabilitanden.

G2W: Der Fonds Diakonia hat mittlerweile überregionale Bedeutung erlangt. Was sind die heutigen Aufgaben Ihrer Stiftung?
Elena Rydalevskaja:
Die Wurzeln von „Diakonia“ reichen ja bis ins Jahr 1991 zurück, als die Russische Orthodoxe Kirche, die römisch-katholische Kirchgemeinde der Hl. Katharina und zwei lutherische Kirchgemeinden in St. Petersburg einen ökumenischen Wohltätigkeitsfonds gründeten. Im Jahr 2008 wurde er als rechtlich selbständige Körperschaft mit dem Namen „Diakonia“ neu strukturiert, und wir nahmen die Arbeit in unserem ersten Reha-Zentrum in Poschitni auf. Im Mittelpunkt unserer Tätigkeit stehen seither Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung (Drogen- und Alkoholsüchtige), HIV-Infizierte, Obdachlose sowie Jugendliche, die zu den besonders Gefährdeten hinsichtlich Drogensucht und HIV gehören.

Mit allen, die sich für unsere Rehabilitationsprogramme interessieren, findet die erste Abklärungs- und Beratungsphase in St. Petersburg statt. Ebenso ist die Schlussetappe mit begleitetem Wohnen erneut hier angesiedelt, denn ein Großteil unserer Rehabilitanden stammt aus dieser Stadt. In begleiteten Wohngemeinschaften suchen alle in den abschließenden zwei bis max. sechs Monaten eine Wohnung und eine Stelle. Unsere Mitarbeiter, Freunde und Verwandte stehen ihnen dabei zur Seite. Zudem bietet das städtische Arbeitsamt jederzeit professionelle Unterstützung. Die Rehabilitanden besuchen außerdem regelmässig ihre Gruppe der Anonymen Drogensüchtigen oder Alkoholiker und nehmen an unseren kulturellen Veranstaltungen und spezifischen Trainings teil. Auch später können sie sich immer an uns wenden oder ein kurzes Time Out in einem unserer Reha-Zentren verbringen.

Wie erreichen Sie die Jugendlichen als besonders gefährdete Gruppe?
In Absprache mit den zuständigen Behörden führen wir direkt auf Schulhöfen Aufklärungsprojekte durch, z. B. an den Berufsmittelschulen. Außerdem hält unser Bus (Anm. d. Red.: „Bus der Barmherzigkeit“ mit warmen Mahlzeiten für Obdachlose) regelmäßig neben Lehranstalten der Stadt. Im Bus können die Jugendlichen kostenlos und anonym einen HIV-Test durchführen und sich fachlich beraten lassen. Wenn im Vorfeld über diese Möglichkeit informiert wird, nutzen die Jugendlichen das Angebot auch.

Im Auftrag des städtischen AIDS-Zentrums haben wir eine Untersuchung zur Verbreitung des HIV-Virus und von risikobehafteten Verhaltensweisen unter den Jugendlichen durchgeführt. Zum Vergleich wurde die Infektionsrate von Obdachlosen und jungen Drogensüchtigen untersucht. Von 200 teilnehmenden Obdachlosen waren 15 HIV-positiv, d. h. ca. 8 Prozent. Dagegen waren unter den 311 Drogenabhängigen, welche uns konsultierten, 33 HIV-positiv, also über 10 Prozent. Unter den Studierenden wurden im vergangenen Jahr insgesamt 1681 Personen erfasst, wobei wir praktisch keine Fälle von HIV-Infizierung feststellen konnten. Allerdings wurde in den Gesprächen deutlich, dass die Jugendlichen einiges riskieren (Anm. d. Red.: indem sie nicht verhüten).

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Rehabilitanden?
Wöchentlich findet eine von uns geleitete Elterngesprächsgruppe statt. Daneben bieten wir Fahrten ins Ressourcenzentrum Sologubovka an, wo die Angehörigen an einem unserer Trainings teilnehmen können. Außerdem organisieren wir kulturelle Veranstaltungen, Ausflüge und Pilgerfahrten zu russischen Klöstern. Die Arbeit mit den Müttern der Rehabilitanden hat sich schon sehr früh entwickelt. Die Nachfrage nach Hilfe ging von den Müttern aus, worauf wir mit unserem erwähnten Angebot eingingen. Väter sind teilweise auch bei den Gesprächsgruppen dabei, jedoch seltener. Manche Eltern besuchen zudem mehrere Selbsthilfegruppen.

Interview mit den Müttern Inna T., Lilia S. und Iraida J.:

projekte drogenrehabilitation mütter

G2W: Wie kam es, dass sich Ihr Sohn für die Rehabilitation entschied?
Inna T.:
Ich und mein Mann haben unserem Sohn eine sehr strenge Bedingung gestellt, das heißt: Wenn er weiter Drogen konsumiere, werden wir uns von ihm abwenden. Wir weigerten uns, ihn weiter in unserer Wohnung aufzunehmen. Rehabilitationsversuche gab es während 15 Jahren verschiedene. Der letzte war in Poschitni. Diesmal scheint es zu gelingen. Heute ist unser Sohn 32 Jahre alt, begonnen hat alles mit 17. Eine Rolle hat auch gespielt, dass er zum ersten Mal wegen der Drogen vor Gericht musste und vier Jahre bedingt erhielt. Auf meine Bitte hin verpflichtete ihn das Gericht, eine Rehabilitation zu durchlaufen. Unterdessen ist er, Gott sei Dank, in einer der sozial begleiteten Wohnungen, besucht die Gruppenzusammenkünfte und hat angefangen auf dem Bau Geld zu verdienen. So ist es bis heute (atmet tief durch).

Haben Sie früh davon erfahren, dass Ihr Sohn Drogen konsumiert?
Iraida J.:
Ja. Doch nur mit Schwierigkeiten habe ich erfahren, was ich selbst dagegen tun kann. Ich rannte von einer Institution zur nächsten. Geholfen hat uns ein orthodoxer Drogenfacharzt, der uns „Diakonia“ empfahl. Damals war das Rehabilitationsprogramm teilweise kostenpflichtig; heute leisten die Angehörigen einen freiwilligen Beitrag. Ein Psychiater riet mir, meinen Sohn für kürzere Zeit in eine psychiatrische Klinik zu verlegen, um ihn zu isolieren. Als mein Sohn wegen einer Überdosis dem Tod nahe war, rief ich die Psychiatrie an. Er bat mich, ihn so schnell als möglich wegzuholen, egal wie. Worauf ich kategorisch Nein sagte und hinzufügte: Wenn, dann einzig von hier in ein Reha-Zentrum. Unter diesen strikten Bedingungen ging er schließlich für viereinhalb Monate nach Poschitni. Nach der Rückkehr war er voller Dank und sagte: „Wenn ich nicht durch diese Rehabilitation gegangen wäre, wären mir die Augen nie aufgegangen. Möglicherweise wäre ich im Gefängnis gelandet.“

Lilia S.: Ich kam in die Gesprächsgruppe in der Hoffnung, dass mein Sohn vielleicht irgendwann einmal den Weg der Rehabilitation einschlagen würde. Als ich dazu stieß, sah ich Mütter, deren Kinder im Rahmen des Reha-Programms bereits daran waren, gesund zu werden. Unter den drogensüchtigen Kindern unserer Bekannten gab es nur zwei Wege: Gefängnis oder Friedhof. Schließlich hat sich mein Sohn für die Rehabilitation in Sologubovka entschieden und sie abgeschlossen.

Wie hat sich Ihr Sohn durch die Rehabilitation verändert?
Inna T.:
Die Aggressivität ist verschwunden. Im Reha-Zentrum gibt es viele Arbeiten zu erledigen, aber als mein Sohn zurückkehrte, sagte er: „Die schwierigste Arbeit ist die Arbeit an den Gefühlen.“ Also jene Prozesse, welche die Berater und Psychologen dort anleiten. Ich arbeitete hier an meinen Gefühlen, und er dort an seinen. Das Resultat war, dass wir zum ersten Mal ein ruhiges Gespräch führen konnten, indem wir bestimmte Grenzen zwischen uns beachteten. Das ist so großartig! Ich bemühe mich, mit meinen Nachfragen nicht zu weit zu gehen, denn ansonsten droht sich die kontrollierende mütterliche Neugier einzuschleichen. Im Gespräch sind wir heute zu einer Art Partner, zu Freunden geworden. Auch wenn wir keine langen Unterhaltungen führen, ist mir dieser neue Umgang miteinander sehr teuer geworden.

Iraida J.: Mein Sohn ist verantwortungsvoller geworden und trifft heute eigene Entscheidungen. Bis dahin hatte ich zum größten Teil seine Probleme gelöst. Mit 21 ist er ins Reha-Zentrum abgereist, mit 22 kehrte er zurück, inzwischen ist er vollkommen erwachsen. Er setzt sich seit dieser Zeit selbst Grenzen und bestimmt, wann und wo er etwas alleine erledigt, beispielsweise in Geldangelegenheiten. Dabei hilft, dass er weiterhin in St. Petersburg seine Gesprächsgruppen besucht.

Lilia S.: Ljoscha (Alexej) ist wie zu sich selbst zurückgekehrt. Ursprünglich war er ein zärtlicher und kreativer Junge, aber die Drogen, die er nach dem Militärdienst intensiv zu konsumieren begann, hatten sein Inneres und Äußeres verändert. Ich litt danach einsam über viele Jahre. Heute ist er 33 Jahre alt, mit 31 Jahren schloss er die Rehabilitation in Sologubovka ab. Zuvor machte er während zehn Jahren mehrere Entzüge in Drogenkliniken, dazu Reha-Versuche. An unserem Beispiel zeigt sich, dass sich die ganze Familie verändern muss. In unserer Familie war ich vor allem diejenige, die dazu zu lernen hatte: Mein Mann ist sehr bodenständig, er zeigte von jeher klare Linien auf, wohingegen ich das früher so interpretierte, dass er unseren Sohn nicht liebe. Ich selbst nahm dem Jungen damals zu viel ab.

Inna T.: Zwischen mir und meinem Mann gab es einen ähnlichen Konflikt. Ich dachte, ich müsse unseren Sohn retten, während mein Mann ihn wegstieße. Durch die Arbeit in der Gruppe konnten ich und mein Mann uns mit neuer Wertschätzung begegnen. Das war eine riesige Erleichterung. Vor 15 Jahren gab es jedoch noch keine solchen Gruppen, deshalb hat die Rehabilitation in unserem Fall so lange gedauert. Wissen Sie, auch die Selbstvorwürfe, das bedrückende Gefühl der eigenen Schuld konnten durch die Gespräche einer neu gewonnenen Selbstachtung weichen.

Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung Ihrer Familie?
Inna T.:
Nun, natürlich ist der Wunsch da, dass unser Sohn den Weg der Gesundwerdung weitergeht. Mein Mann und ich sind daran, wieder zu einem eigenen Leben finden. Zu zweit nehmen wir nun an Busfahrten zu Klöstern und anderen Orten der Umgebung teil, ich möchte regelmässig schwimmen gehen – ein eigenes kreatives Leben hat sich aufgetan. Langsam, langsam gelingt das.

Iraida J.: Während ich früher meinem Sohn in allem zu helfen versucht habe, entscheidet er nun selbst. Einzig bete ich noch für ihn. Für mich selbst habe ich begriffen, dass ich nach dem Tod meines Mannes aktiv mein Leben gestalten muss. Zunächst geschah dies in einer Annäherung ans kirchliche Gemeindeleben und mit Pilgerfahrten. Auch hier in der Gruppe habe ich da und dort die Initiative ergriffen. Beispielsweise führen die Söhne während der Rehabilitation regelmässig eigene einstudierte Szenen oder musikalische Darbietungen auf. Meine Idee war daher, dass auch wir Mütter Tänze einstudieren und in Sologubovka aufführen könnten.

Lilia S.: Nach all den schwierigen Jahren ist in mir und der Familie eine neue Orientierung im Leben entstanden. Ich konnte innerlich wachsen, helfe mit anderen Gemeindegliedern von unserer Kirche aus Kinderheimen und anderen bedürftigen Menschen. Was Du an Gutem gibst, kehrt auch wieder zurück. Mein Mann und ich können unsere erwachsene Tochter und den ebenso erwachsenen Sohn selbständig ihr Leben führen lassen. Doch feiern wir Feste zusammen, besuchen uns. Das heißt, das Leben ist – vor allem dank des Einsatzes von „Diakonia“ – um vieles besser geworden.

pdfRGOW 2/2016, S. 28-29

Bild: Fonds Diakonia