Skip to main content

„Kinder der Hoffnung“: Hilfe für ukrainische Flüchtlingsfamilien

Regula Spalinger im Gespräch mit Igor Smazhennyj und Ljudmila Boronova

Die ukrainische NGO „Kinder der Hoffnung“ unterstützt ukrainische Flüchtlingsfamilien im In- und Ausland. Der Winter sowie die kriegsbedingten Strom- und Heizungsausfälle sind für die Familien eine enorme Belastung. „Kinder der Hoffnung“ organisiert Freizeitprogramme für die Kinder und bietet psychologische Betreuung für die kriegstraumatisierten Familien an.

Was sind momentan Ihre Arbeitsschwerpunkte?
Igor Smazhennyj: Wir setzen uns insbesondere für Binnenflüchtlinge und bedürftige Familien ein. Das geschieht vor allem über die Kirchgemeinde des hl. Nikolai in Kyjiw sowie in den Dörfern Voropaiv und Chotjanivka im Kyjiwer Gebiet. Einige der an diesen Orten betreuten Familien kannten wir schon, die meisten sind jedoch nach dem 24. Februar 2022 neu hinzugekommen. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die ganze Ukraine sind außerdem alleinstehende Kranke und Betagte, von denen einige ans Bett gefesselt sind, auf unsere Hilfe angewiesen. Die Gehbehinderten fürchten sich nach draußen zu gehen, da sie einem Drohnen- oder Raketenangriff besonders schutzlos ausgeliefert wären. Ein Netzwerk von Studierenden und weiteren Helfern, das wir aufgebaut haben, bringt ihnen dringend benötigte Lebensmittel und Medikamente. In einzelnen Fällen versorgen unsere Freiwilligen auch Bedürftige in der benachbarten Oblast Poltava.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Menschen im Winter?
Igor Smazhennyj: Mit Beginn des Winters haben viele der von uns unterstützten Familien Probleme mit dem Heizen. Wenn dann auch noch der Strom ausfällt, ist dies besonders schlimm, da sich auch keine warmen Mahlzeiten zubereiten lassen. Eine junge Familie mit einem Neugeborenen haben wir daher mit dem Kauf eines Stromgenerators unterstützt. Anderen Familien helfen wir mit Beiträgen für Brennholz.

Ljudmila Boronova: Als im Dezember die russische Armee verschiedene ukrainische Regionen mit Raketen beschoss, fiel hier in Kyjiw für mehrere aufeinanderfolgende Tage die Heizung aus. Später liefen die Heizungen längere Zeit mit gedrosselter Temperatur, bis die Heizkraftwerke wieder repariert worden waren. Wir behalfen uns während dieser Wochen mit zusätzlicher Kleidung. Auch als es keinen Strom gab, funktionierte zumindest in unserem Stadtbezirk die Gasversorgung. Daher verwendeten wir einen Gaskocher, dessen mit Wasser gefüllter Metallbehälter eine gewisse Wärme spendete. Dazu eine dicke Decke um die Schultern, bis zur Nase hochgezogen. Bisher hat uns in diesem Winter geholfen, dass die wirklich tiefen Minustemperaturen von -15 Grad Celsius ausgeblieben sind. Doch in den östlichen Regionen, wo zurzeit am intensivsten gekämpft wird, sind die Wintermonate noch kälter.

Wie unterstützt „Kinder der Hoffnung“ geflohene Familien im Ausland?
Igor Smazhennyj: Zu Beginn des Krieges gingen wir so vor, die bedürftigsten Familien festzustellen. Unter den Kindern dieser Familien gab es mehrere Dutzend, die bereits ein- oder zweimal einen Ferienmonat in der Umgebung von Mailand bei Gastfamilien verbracht hatten. Dazu eingeladen hatte der Verein Famiglie per L’Accoglienza, dem Familien aus verschiedenen Kirchgemeinden Norditaliens angehören und mit dem unsere Organisation seit ihrer Gründung 2015 engen Austausch pflegt. Dank dieser Beziehung fanden rund 20 Kinder mit ihren Müttern oder Eltern zu Kriegsbeginn bei italienischen Gastfamilien Aufnahme. Weitere 20 bis 25 Familien sind in verschiedenen europäischen Ländern verteilt. Wir helfen denjenigen, die dringend Unterstützung brauchen, mit Unterstützungsbeiträgen, vor allem für notwendige medizinische Behandlungen. Dazu zählt die elfjährige Melania, die mit ihrer Großmutter und der Familie ihrer Tante in Bratislava lebt. Das Mädchen verlor 2015 bei einem Raketenangriff auf ihre Heimatstadt Mariupol als Dreijährige ihre Mutter. Dem verletzten Mädchen selbst musste anschließend ein Bein amputiert werden. Unsere Organisation ermöglicht das regelmäßige Anpassen der Prothese und weitere ärztliche Hilfe für Melania.

Welchen Gefahren und Belastungen sind Ihre Mitarbeitenden durch den Krieg ausgesetzt?
Igor Smazhennyj: Die Lieferung von Hilfsgütern an Personen im Umland von Kyjiw ist logistisch oft schwierig. So war zu Beginn des Krieges die Brücke bei Irpin, nordwestlich der Hauptstadt, zum Schutz vor den Invasionstruppen gesprengt worden. Unsere Helfer konnten eine Zeit lang nur mit dem Boot eines Einheimischen auf die andere Seite übersetzen. Das war gefährlich, da russische Soldaten das Ufer unter Beschuss nahmen. Trotzdem ließen unsere Hilfskräfte die bedürftigen Menschen nicht im Stich. Bis heute fällt durch feindlichen Raketenbeschuss immer wieder für gewisse Zeit der Strom aus. Daher erfordert die Überweisung von Hilfszahlungen an Familien nicht selten Geduld. Das Bankensystem in der Ukraine funktioniert jedoch auch unter den aktuellen Bedingungen erstaunlich zuverlässig. Aufgrund des Kriegs arbeiten wir innerhalb unseres Teams dezentraler als zuvor: Wir gewähren den Mitarbeitenden mehr Autonomie und Entscheidungsvollmacht.

Ljudmila Boronova: Ich habe mit meinem Mann die ganze bisherige Kriegszeit in Kyjiw verbracht, während unser 26-jähriger Sohn mit seiner Truppe aufgeboten wurde und an der Front kämpft. Während des Vorrückens der russischen Truppen im Frühjahr 2022 war die Hauptstadt fast zu zwei Drittel leer, weil unzählige Menschen geflohen waren. Damals saßen wir im Luftschutzkeller und hörten die Maschinengewehrsalven. In den vergangenen Monaten sind viele Bewohner zurückgekehrt. In den ländlichen Regionen musste die Bevölkerung oft von Vorräten leben, die sie noch hatte. Unsere Freunde beispielsweise buken Brot für die Nachbarn. Diese Zeit war schrecklich, viele gerieten ins Kreuzfeuer der sich bekämpfenden russischen und ukrainischen Truppen. Es ist ein riesiges Problem, dass auch dort, wo nicht mehr gekämpft wird, weite Landstriche vermint sind. Als wir es im Juli wagten zu Bekannten in Richtung Butscha zu fahren, sahen wir zerstörte Fabriken und Supermärkte sowie die verwüsteten Dörfer. Nun wird dort und in Kyjiw vieles dank internationaler Hilfe wieder aufgebaut. Eine von Raketen getroffene Schule in unserer Nähe und ein Wohnhaus in der Nachbarschaft sind schon wieder instandgesetzt. Doch sind die Reparaturarbeiten im gegenwärtigen Krieg oft Sisyphusarbeit, da man nie weiß, wo wieder russische Raketen einschlagen.

Wie findet der Schulunterricht für die Kinder statt?
Ljudmila Boronova: Es gibt Schulen mit Schutzbunkern, in denen der Unterricht physisch erfolgen kann. Bei Luftalarm wird der Unterricht sofort unterbrochen, damit sich alle in die Schutzkeller begeben können. Andere Schulen vermitteln den Stoff online. Aufgrund von Luftalarm oder beschossener Elektrizitätswerke fällt immer wieder für mehrere Stunden das Licht oder das Internet aus, so dass auch der Online-Unterricht ausfällt und bei den Kindern Wissenslücken entstehen. Außer den durch Raketenbeschuss verursachten Stromausfällen gibt es auch netzstabilisierende Stromabschaltungen für gewisse Stadtbezirke oder Gebiete. Die Abschaltung wird zumeist kurzfristig angekündigt. Daher wissen wir nie genau, wann wir wieder Strom oder Internet haben. Oft dauert es mehrere Stunden. Im längsten Fall, den ich erlebt habe, hatten wir während 62 Stunden keinen Strom.

Können Sie noch Freizeitprogramme für die Flüchtlingskinder in der Region Kyjiw organisieren?
Igor Smazhennyj: Aufgrund der Kriegslage ist es heute viel schwieriger, sich an einem Ort mit den Kindern zu versammeln. Vor dem 24. Februar 2022 konnten wir zwei- bis dreimal pro Woche in Kyjiw kreative Kurse für die Kinder anbieten. Zudem erhielten sie Aufgabenhilfe, wir konnten mit Psychotherapeuten Familientherapien durchführen und gemeinsame Ausflüge unternehmen. Regelmäßige Anlässe dieser Art sind nun aufgrund der ständigen Gefahr von Luftangriffen verboten. Daher sind wir dazu übergegangen, für die Kinder etwa einmal pro Monat zu kirchlichen Festen Anlässe durchzuführen, bei denen wir gemeinsam basteln, zeichnen, backen und spielen. In der Nähe aller großen Kirchen der Hauptstadt gibt es Schutzräume, die im Notfall aufgesucht werden können. Der Bevölkerung ist daher das Zusammenkommen in den Kirchgebäuden erlaubt.

Was sind zurzeit die dringendsten Bedürfnisse der Flüchtlingsfamilien?
Igor Smazhennyj: Neben der materiellen Nothilfe benötigen die Kinder und ihre Eltern vor allem psychologische Unterstützung. Dafür ist nach unserer Erfahrung zumindest ein persönliches physisches Erstgespräch zwischen der Fachperson und der Familie notwendig. Anschließend können die Konsultationen zum Teil online durchgeführt werden. Doch im Krieg sind physische Beratungen schwierig: Im Winter kommen zu den Gefahren durch Raketenbeschuss der Schnee und schlechte Straßenverhältnisse hinzu. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die psychologische Unterstützung für kriegstraumatisierte Kinder und deren Familien in der wärmeren Jahreszeit rasch wieder auszuweiten.

Sie können die Arbeit von „Kinder der Hoffnung“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Kinder der Hoffnung“ unterstützen.

pdfRGOW 1-2/2023, S. 44-45

Bild: Kinder der Hoffnung