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Wie sozial ist die Russische Kirche?

G2W-Jahrestagung 2010 zu Diakonie und Sozialarbeit der ROK im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft

18. Mai 2010, 18:30 Uhr
Theologisches Seminar der Universität Zürich
Kirchgasse 9, 8001 Zürich

Flyer

Programm

17:30 Uhr Apéro
18:30 Podiumsdiskussion zum Thema: Wie sozial ist die Russische Kirche?

Referentinnen

Priester Dr. theol. Vladimir Chulap, Prorektor der Geistl. Akademie von St. Petersburg
Erzpriester Alexander Stepanov, Vorsitzender der Abteilung für Wohltätigkeit (Sozialarbeit und Diakonie) der Diözese von St. Petersburg
dipl. phil. II Franziska Rich, Projektverantwortliche von G2W
Dr. theol. Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich
Dr. theol. Daniel Wiederkehr, Leiter der Fachstelle für Diakonie der Röm.-kath. Kirche Basel-Stadt und der Fachstelle Soziale Arbeit der Röm.-kath. Kirche Basel-Land

Tagungsbericht

Die Jahrestagung 2010 fand am Dienstag, 18. Mai 2010 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürichstatt. Neben der Jahresversammlung des Vereins G2W (mit Verabschiedung des Jahresberichts 2009) umfasste sie eine öffentliche Veranstaltung zum Thema "Wie sozial ist die Russische Orthodoxe Kirche?", an der neben zwei langjährigen Projektpartnern aus Russland, Erzpriester Alexander Stepanov und Priester Dr. Vladimir Chulap, als weitere externe Referenten Pfr. Dr. Christoph Sigrist und Dr. Daniel Wiederkehr teilnahmen.

Priester Dr. Vladimir Chulap aus St. Petersburg hielt ein kurzes Einführungsreferat, in dem er die aus seiner Sicht wichtigsten Herausforderungen an die Diakonie der ROK benannte. Zu Beginn setzte er sich mit dem Vorurteil der ROK als «asozialer, reicher Staatskirche» auseinander, das immer wieder zu hören sei. Berichtigend hielt er fest, dass die Situation der Kirche keineswegs so konsolidiert ist, wie dies medienwirksame Auftritte von Regierungs- und Kirchenvertretern bisweilen vermuten ließen: So werden etwa kirchliche Abschlüsse vom Staat nach wie vor nicht anerkannt, und die Kirche erhält keine finanzielle Unterstützung von Seiten des Staates – schon gar nicht für ihre diakonischen Aktivitäten: Zumeist empfinde der russische Staat Aktivitäten im sozialen Bereich eher als «Einmischung» in seinen Kompetenzbereich und sei erst in den letzten Jahren allmählich bereit, seinen Anspruch auf ein Monopol im Bereich sozialer Dienstleistungen aufzugeben. Dies nicht zuletzt daher, dass die staatlichen Sozialeinrichtungen oft überfordert seien und eine Zusammenarbeit mit privaten Partnern – seien es Kirchen oder andere NGOs – nottue. Zögerlich komme somit in den letzten Monaten etwas Bewegung in die Beziehungen zwischen Kirche und Staat im diakonischen Bereich. Als erster Schritt zu dem noch weit entfernten Ziel einer sozialen Partnerschaft kann angesehen werden, dass seit neustem «sozial orientierte Organisationen» die Möglichkeit haben, staatliche Mittel zu beantragen.

Weitere Probleme, mit denen die – trotz aller Hindernisse aktive – Diakonie zu kämpfen hat, ergeben sich laut Khulap aus der Vergangenheit: Da die Kirche 1917 alle Gebäude verloren und Nutzungsrechte zumeist nur an Kirchengebäuden zurückerhalten habe, gelte es vorab bezahlbare und geeignete Räumlichkeiten zu finden. Nach wie vor bestehe auch in der Gesellschaft und selbst unter den Geistlichen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber diakonischem Engagement. Dennoch seien in der Diözese St. Petersburg immerhin rund 50 von 250 Pfarreien diakonisch aktiv, etwa 60 diakonische Organisationen beschäftigten rund 250 bezahlte Mitarbeitende und mindestens 500 Freiwillige. Als vordringlichste Ziele für die weitere Entwicklung der Diakonie der ROK nannte Vladimir Khulap die bessere Vernetzung zwischen den bis jetzt meist nur lokal agierenden Gemeindeinitiativen, die Integration diakonischer Themen in die Priesterausbildung und die Sensibilisierung der Gesellschaft für den Wert diakonischer Arbeit.

An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen neben Vladimir Khulap Erzpriester Alexander Stepanov, langjähriger Projektpartner von G2W aus St. Petersburg und Leiter der «Abteilung für Wohltätigkeit und soziale Arbeit» der Diözese St. Petersburg, Franziska Rich, Leiterin der Projektarbeit von G2W, Pfr. Dr. Christoph Sigrist aus Zürich, der u.a. an der Universität Bern in der theologischen Weiterbildung im Bereich Diakonie lehrt, sowie Dr. Daniel Wiederkehr, Leiter der Fachstellen für Diakonie bzw. Soziale Arbeit der röm.-kath. Kirchen der Kantone Basel-Stadt und Basel-Land, teil.

Das Gespräch drehte sich vor allem um Fragen der Vergleichbarkeit diakonischer Strukturen in Russland und in der Schweiz, die diakonische Ausbildung für Geistliche und Möglichkeiten zu deren Verbesserung und um mögliche «Partnerschaftsmodelle » der Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Staat im sozialen Bereich. Als vorläufiges Fazit ließ sich festhalten, dass die kirchliche Diakonie in der Schweiz zwar über ungleich komfortablere Bedingungen verfügt als die diakonischen Initiativen in Russland, indem sie vom Staat als Partner geschätzt wird, dass sie jedoch – im Gegensatz zur Diakonie der ROK – oftmals von den eigentlichen Kirchenstrukturen losgelöst ist. Für Russland stellt sich für die Zukunft die Frage, ob ein ähnlicher Weg der Professionalisierung zu beschreiten ist wie in der Schweiz oder in Deutschland. Beide anwesenden russischen Diskussionspartner standen einer solchen «Kopie » eines ausländischen Modells eher kritisch gegenüber und propagierten die Entwicklung eines eigenständigen Modells, das die Tradition der fest im Gemeindeleben verwurzelten Diakonie fortführen kann. Nichtsdestoweniger waren die Diskussionsteilnehmer sich einig darüber, dass ein regelmäßiger Austausch – etwa zwischen Studierenden –, in dessen Rahmen über Erfahrungen in der diakonischen Arbeit diskutiert werden kann, beiden Seiten zugute käme.

Rahel Cerná-Willi