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Russland und der Zweite Weltkrieg

G2W-Jahrestagung 2015 in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich.

Donnerstag, 21. Mai, 16:00 – 20:00 Uhr
Universität Zürich, Hauptgebäude, Kollegiengebäude 2, Hörsaal KO2-F-152
Rämi-Str. 71, 8006 Zürich
 
Programm
16:00 Uhr Öffentliche G2W-Mitgliederversammlung
17:30 Uhr Apéro
18:15 Uhr Abendveranstaltung mit Irina Scherbakowa zum Thema: Russland und der Zweite Weltkrieg: Umkämpfte Erinnerung
 
 
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Russland und der Zweite Weltkrieg: Umkämpfte Erinnerung
Der „Grosse Vaterländische Krieg“ nimmt in der sowjetischen Geschichte und im Gedächtnis der russischen Bevölkerung einen herausragenden Stellenwert ein. Angesichts des 70. Jahrestages des Sieges über den Nationalsozialismus und der aktuellen internationalen Spannungen nutzt die russische Erinnerungspolitik den Zweiten Weltkrieg mehr denn je zur Konstruktion eines bestimmten Geschichtsbildes. Wie sieht dieses aus, und welche Ziele werden damit verfolgt?
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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Irina Scherbakowa,
Dr. phil, Germanistin, Publizistin, Leiterin der Bildungsprogramme der russländischen Gesellschaft "Memorial". 2013 erhielt sie die Medaille der Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, 2014 den Carl-von-Ossietzky-Preis für Politik und Zeitgeschichte der Stadt Oldenburg. Sie ist Autorin und Herausgeberin mehrer Bücher, u.a. Zerrissene Erinnerung: der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen 2010; mit Volkhard Knigge (Hrsg.) Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956. Wallstein, Göttingen, Weimar 2012
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
TAGUNGSBERICHT

Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs widmete sich die diesjährige Jahrestagung von G2W am 21. Mai 2015 dem Thema „Russland und der Zweite Weltkrieg: Umkämpfte Erinnerung“. Hauptreferentin der Veranstaltung, die in Kooperation mit der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich stattfand, war Dr. Irina Scherbakowa, Germanistin, Buchautorin, Publizistin sowie Leiterin der Bildungsprogramme und „Oral History“-Projekte der russischen Gesellschaft MEMORIAL. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Erinnerungen der russischen Gesellschaft an die Kriegsvergangenheit und den Stalinismus.

Wie Stefan Kube, Chefredakteur der Zeitschrift RGOW und Leiter des Instituts G2W, in seiner Einführung darlegte, gestaltet sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Europa vielfältig und keineswegs einheitlich – sie sei entsprechend dem Untertitel der Veranstaltung „umkämpfte Erinnerung“, und zwar nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen einzelnen europäischen Nationen und innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Die pompösen, mit viel Kriegsgerät untermauerten Gedenkfeiern zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ am 9. Mai in Moskau gaukelten daher eine monolithische Erinnerung in Russland vor.

Schlüsselereignis im Gedächtnis der russischen Bevölkerung

Irina Scherbakowa referierte in ihrem Vortrag über den herausragenden Stellenwert des „Großen Vaterländischen Kriegs“ als Schlüsselereignis im Gedächtnis der russischen Bevölkerung sowie über die zahlreichen Arten offizieller und individueller Kriegserinnerungen in Russland. Sie zeichnete die Entwicklung des Kriegsgedächtnisses in Russland seit den unmittelbaren Nachkriegsjahren, über die späte Erklärung des 9. Mai zum Feiertag im Jahr 1965, bis hin zu den ersten Aufarbeitungen des stalinistischen Erbes und der Kriegserfahrungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre nach. Heute wird der Sieg im Zweiten Weltkrieg in Putins Russland erneut glorifiziert: Auf der Suche nach einer nationalen Idee und gesellschaftlichem Konsens dient ein vereinfachter Sieges-Mythos als ideologisches Fundament zur Konsolidierung der Gesellschaft – gerade auch im Rahmen der beispiellosen Propaganda gegen die sog. „faschistische“ Ukraine. Dazu gehört auch die Möglichkeit, ein positives Bild von Stalin als siegreichem Kriegsführer zu zeichnen. Zu den Hauptgründen für diese Entwicklung zählte Scherbakowa die fehlende geschichtspolitische Erinnerung an die Opfer des Stalin-Regimes und des Krieges, wie auch den Verlust des im Zweiten Weltkrieg erlangten Großmachtstatus durch den Zerfall der Sowjetunion.

Während die lebendige Erinnerung durch die aktiven Kriegsteilnehmer verblasst und auch das Familiengedächtnis in den meisten Fällen fragmentiert bleibt, werden heute vermehrt neue, mythologisierte Symbole geschaffen, wie z. B. das „Sankt-Georgs-Band“, das keinerlei realen Bezug zum Kriegsgedächtnis hat. Wiederbelebt wird auch das Bild vom äußeren und inneren Feind, insbesondere durch das Schüren von Antiamerikanismus und die Stigmatisierung vermeintlicher „ausländischer Agenten“. Im Geiste dieser Stereotype werden Schulbücher umgeschrieben und teure kriegspatriotische Erziehungsprogramme durchgeführt. Die Regierung habe sich angesichts der Protestbewegungen von 2011/12 für einen Kurs des „Anziehens der Schrauben“ (ein Begriff aus der Stalin-Zeit) entschieden, der zu einer tiefen Spaltung in der Gesellschaft führe: zwischen gebildeten und demokratisch eingestellten Teilen der Gesellschaft und traditionalistischen, konservativen Kräften, wobei erstere zurzeit weitaus kleiner und schwächer scheinen. Angesichts der herrschenden Atmosphäre des Hasses in Russland stelle sich die Frage, ob es der Regierung Putin tatsächlich gelingt, den Umgang mit der Vergangenheit zur Legitimierung eines autoritären Regimes zu instrumentalisieren.

Sonderfall Russland?

In einem kurzen Kommentar zum Hauptvortrag wies Prof. Jeronim Perović, SNF-Förderungsprofessor an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Historischen Seminars der Universität Zürich, darauf hin, dass die Konstruktion geschichtlicher Mythen in vielen europäischen Ländern und Gesellschaften, gerade auch in der Schweiz, zu beobachten sei und durchaus auch zur Konsolidierung von Gesellschaften beitragen könne. Dennoch sei die quasi-Kanonisierung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ im gegenwärtigen Russland ein Sonderfall. Dabei stelle sich einerseits die Frage des „Wozu“, denn die Suche nach einer neuen Ideologie genüge als Erklärung nicht. Andererseits stelle sich die Frage, warum und inwiefern die russische Gesellschaft diese Form von Erinnerungspolitik akzeptiere.

Im Rahmen dieser Fragestellungen entwickelte sich auch die anschließende Diskussion mit Fragen aus dem Publikum, die von Dr. Regula Zwahlen, Redakteurin von RGOW, moderiert wurde. Als einen der Hauptgründe der aktuellen Entwicklung bzw. für die Passivität der Gesellschaft nannte Scherbakowa deren negative Erfahrungen in den wirtschaftlich krisenhaften 1990er Jahren, zu deren Zuständen niemand zurück wolle. Als Hoffnungsschimmer betonte Scherbakowa die russische Jugend, die sich in den Bildungsprogrammen von Memorial durchaus für die Aufarbeitung der vielschichtigen Erinnerungen ihrer Familiengedächtnisse motivieren lasse.

Regula Zwahlen

 
 
 
Fotos: "Sieg! 1945-2014"; kremlin.ru; z.Vfg. von I. Scherbakowa