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Buchbesprechungen

Stefan Kube, Natalija Zenger, Regula Zwahlen

Drei Buchbesprechungen zu
Reinhold Vetter: Polen im 21. Jahrhundert;
Marco Besl, Simone Oelke (Hg.): Politische Macht und orthodoxer Glaube;
Klementyna Suchanow: Das ist Krieg

Reinhold Vetter
Polen im 21. Jahrhundert
Angekommen im europäischen Gemeinwesen – oder unterwegs auf nationalistischen Sonderwegen?
Baden-Baden: Tectum Verlag 2023, 248 S.
ISBN 978-3-8288-4825-2. € 29.–; CHF 38.90.

Die Parlamentswahlen in Polen vom 15. Oktober 2023 nimmt die neueste Publikation des langjährigen Polen-Korrespondenten zahlreicher deutschsprachiger Medien, Reinhold Vetter, zwar nicht mehr in den Blick, doch macht der Untertitel seines Buches bereits deutlich, dass der Autor das Land vor einer Richtungswahl sieht. Zur Beantwortung der Frage, wo Polen am Ende des ersten Quartals des 21. Jahrhunderts steht, nimmt Vetter die Entwicklung des Landes von der Systemtransformation 1989/90 bis zur Großdemonstration gegen die im Oktober abgewählte Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) am 4. Juni 2023 in den Blick. Zentrale Weichenstellungen in den letzten drei Jahrzehnten sind für Vetter die Entscheidungen des Runden Tisches, die für andere ostmitteleuropäische Länder zu einem Vorbild des politischen Umbruchs wurden, Polens „Rückkehr nach Europa“ – die Integration des Landes in die euroatlantischen Strukturen von NATO und EU, die Regierungsübernahme durch die nationalkonservative PiS 2015 sowie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auch in Polen zu einer intensiven Debatte über die zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas geführt hat.

Für Vetter ist die Mitgliedschaft Polens in der EU eine „Erfolgsgeschichte“ (S. 26), da die polnische Volkswirtschaft dadurch einen großen Sprung nach vorne gemacht habe. Vor diesem Hintergrund sieht er auch die ökonomische „Schocktherapie“ Anfang der 1990er Jahre als richtigen Weg, allerdings beschreibt er auch ausführlich die sozialpolitischen Schattenseiten. Für alle polnischen Regierungen seit der Wende blieb Sozialpolitik „eher fünftes Rad am Wagen“ (S. 17). Dies gilt auch für die Nationalkonservativen der PiS, „die lediglich Geldgeschenke an bestimmte Schichten der Gesellschaft verteilt, aber notwendige Reformen der Sozialsysteme nicht angepackt haben“ (S. 129).

Die Regierungspolitik der PiS seit 2015 mit ihren nationalistischen, autoritativen und populistischen Zügen kritisiert Vetter als „Rollback“ in der demokratischen Entwicklung und politischen Kultur des Landes und macht dies anhand der Umbauten des Justizsystems („diskriminierender Legalismus“), der Einflussnahme auf die Medien, der konfrontativen politischen Rhetorik, der antideutschen Stimmungsmache, der Geschichtspolitik und anderen Politikfeldern deutlich. Insgesamt beurteilt er die Regierungspraxis der PiS als „populistischen Autoritarismus mit gewissen Reminiszenzen an den früheren Sozialismus“ (S. 202 f.).

Vetters Buch ist auch eine Fundgrube für zahlreiche weitere Themen wie Umweltpolitik oder die Rolle der katholischen Kirche und kann allen empfohlen werden, die sich über die Entwicklung Polens in den letzten 30 Jahren informieren möchten.

Stefan Kube

Marco Besl, Simone Oelke (Hg.)
Politische Macht und orthodoxer Glaube
Beziehungen zwischen Politik und Religion in Osteuropa
Regensburg: Friedrich Pustet 2023, 152 S.
ISBN 978-3-7917-3396-8. € 22.–; CHF 34.90.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt deutlich, wie stark Politik und Religion oft in Osteuropa verflochten sind. Der russische Patriarch Kirill und andere hochrangige Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche unterstützen offen den Krieg und rechtfertigen ihn auch theologisch. Der Sammelband, hervorgegangen aus einer wissenschaftlichen Tagung 2022, geht anhand punktueller Einblicke der Frage nach der Beziehung von Orthodoxie und Politik und deren historischer Entwicklung nach. Dabei richtet er sich an ein breiteres Publikum, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema angesichts der aktuellen Entwicklungen zu ermöglichen.

In einem ersten Teil beschäftigt sich der Sammelband mit den historischen Strukturen, aus denen sich die heutigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Osteuropa entwickelt haben. Der erste Beitrag widmet sich dem Schlagwort der „Symphonie“, mit dem häufig die Nähe zwischen Staat und Kirche begründet wird. Der Beitrag zeigt jedoch auf, „welche Missverständnisse und Verzerrungen mit diesem Begriff einhergingen und einhergehen können“ (S. 16). Ein weiterer Beitrag beleuchtet die Geschichte der Christianisierung in Osteuropa und verdeutlicht, dass „Slawentum, russisches Reich und eine zugehörige orthodoxe Kirche keine überzeitliche Verbindung darstellen, wie dies die russische Propaganda weismachen möchte“ (S. 31).

Der zweite Teil widmet sich dem Spannungsfeld von Autokephalie, Nation und Staat. Dies geschieht einerseits anhand des aktuellen Beispiels der Autokephalie der ukrainischen Orthodoxie, die für viele Spannungen innerhalb der Weltorthodoxie gesorgt hat. Andererseits wird der Weg der polnischen Orthodoxie in die Autokephalie beleuchtet, die sich in der Zwischenkriegszeit vom Moskauer Patriarchat löste.

Der dritte Teil geht der traditionellen Gegenüberstellung von Ost und West nach. Anhand der „Stimme der Orthodoxie“, einer von der Russischen Orthodoxen Kirche in Berlin herausgegebenen Zeitschrift, wird untersucht, wie das Verhältnis zwischen Osten und Westen während der Zeit der Perestrojka verhandelt wurde. In einem zweiten Beitrag geht es um die Konzeption der Menschenrechte der Russischen Orthodoxen Kirche, wobei sich diese von der westlichen unterscheidet und sich daran ein kritischer Blick auf den Westen aufzeigen lässt. Der letzte Beitrag des Bandes beschäftigt sich anhand der Hauptkirche der russischen Streitkräfte mit einem besonders augenfälligen Beispiel für die Verflechtung von politischer Macht und Orthodoxie. Die Kirche ist in einen patriotischen Gedenk- und Freizeitpark zum Thema Krieg eingebettet, während das Bildprogramm in ihrem Inneren „im Gesamten fast eine ‚militärisch-patriotische Heilsgeschichte‘ Russlands zeigt“ (S. 148). Der Bau verkörpert so Patriarch Kirills Rhetorik, in der er „russisches Militärhandeln religiös legitimiert“ (S. 149).

Natalija Zenger

Klementyna Suchanow
Das ist Krieg
Die geheimen Strategien radikaler Fundamentalisten zur weltweiten Abschaffung der Menschenrechte
München: Europa-Verlag 2023, 407 S., übersetzt von Antje Ritter-Miller
ISBN: 978-3-95890-540-5. € 28.–; CHF 39.90.

Eine wissenschaftliche Analyse der Verbindungen zwischen der christlichen Rechten im Westen, insbesondere US-amerikanischen Fundamentalisten und dem Moskauer Patriarchat boten bereits Kristina Stoeckls und Dmitry Uzlaners Forschungen zu „The Moralist International. Russia in the Global Culture Wars“ (s. RGOW 4 (2023), S. 31). Das Buch der polnischen Autorin, Journalistin und Aktivistin Klementyna Suchanow erweitert die Thematik aus polnischer Perspektive, insbesondere mit Blick auf die römisch-katholischen Organisationen „Verein für christliche Kultur Priester Piotr Skarga“, die nicht die Zustimmung der Krakauer Kurie hat (S. 287), und auf die Ordo Iuris-Stiftung, die beide als radikale Abtreibungsgegner und Lobbyisten gegen die Istanbul-Konvention bekannt sind. Laut Suchanow haben beide Organisationen ihre Wurzeln in der weltweit aktiven, in Brasilien gegründeten Bewegung „Tradition, Familie und Privateigentum“ (S. 301).

Das seit kurzem in deutscher Sprache vorliegende Buch erschien 2020 auf Polnisch, im Jahr, als die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein rigoroses Abtreibungsgesetz durchgesetzt hatte und darauf die größten und längsten Demonstrationen stattfanden, die Polen je gesehen hat. Die Autorin ist Mit-Initiatorin der größten polnischen Frauenbewegung „Polenweiter Frauenstreik“. Sie recherchierte „über die religiösen Extremisten, die […] versuchen, Frauen und LGBT-Personen zu entrechten, und über diejenigen, die ihnen Widerstand leisten“ (S. 10). Ihre Hauptthese besteht darin, dass die Spuren der neuen rechten Internationalen unter dem Slogan „Fundamentalisten aller Länder vereinigt euch!“ (S. 29) seit ca. 2012 „zwangsläufig in den Kreml“ führen (S. 29). Sie zeigt, wie im Austausch rechtsgerichteter US-amerikanischer und russischer Soziologen die Idee eines „World Congress of Families (WCF)“ entstand (S. 96), bei dem insbesondere der Oligarch Konstantin Malofejev eine wichtige Rolle spielt.

Die stilistisch weniger analytisch einordnende als enthüllungsjournalistische Lesereise führt durch Spanien, Lateinamerika und die USA, Deutschland, Italien, Polen und Kroatien und liest sich als „Who is who“ eines globalen Netzwerks der christlichen Rechten, mit einem Schwerpunkt auf Russland und Polen. Die Beziehungen zwischen letzteren waren schon immer und sind seit dem Ukraine-Krieg besonders widersprüchlich und heikel (S. 131, 230). Sie finden sich aber bei Bestrebungen, die UN-Menschenrechte gegen das „Gesetz Gottes“ auszutauschen (S. 222). Das Buch ist ein Appell, da genauer hinzuschauen.

Regula Zwahlen

Rainer Bendel, Robert Pech (Hg.)
Christen und totalitäre Herrschaft in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas von 1945 bis in die 1960er Jahre
(= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa, Bd. 53)
Wien – Köln: Böhlau Verlag 2023, 395 S.
ISBN: 978-3-412-52748-8. € 80.–; CHF 106.–.

Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Kirchen und sozialistischen Regime nach deren Machtübernahme am Ende des Zweiten Weltkriegs und nimmt dabei die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte in den Blick. Statt sich dabei einerseits nur auf den Widerstand und das Martyrium von Christen gegen die totalitäre Herrschaft oder andererseits auf die Kollaboration von Kirchen zu fokussieren, geht es den Herausgebern um eine Ausweitung der Forschungsfrage auf „Nischen und Gegenwelten“ (S. 15), um so eine vereinfachte Engführung aufzubrechen: „Wie sah die Reaktion auf Repression im alltäglichen Leben, in der Theologie aus, welche Formen von Verweigerung, von Widerstand gab es, welche Phasen der Anpassung, vielleicht auch der Resignation bis hin zu einer möglichen Kollaboration?“ (S. 16).

In einem einleitenden Beitrag zur Beziehungsgeschichte von Christentum und Kommunismus macht Klaus Buchenau auf die Wichtigkeit der „historischen Entwicklung“ (S. 35) im Verhältnis der Kirchen und sozialistischen Regime aufmerksam: Denn das Verhältnis war keinesfalls statisch, sondern es gab je nach Land unterschiedliche Phasen von stärkeren Repressionen und größeren Freiräumen, die es zu analysieren gilt. Zudem unterschied sich die Religionspolitik der sozialistischen Regime je nach Konfession, und ob letztere aus Sicht der Herrschenden mit einer als problematisch wahrgenommenen nationalen Gruppe verbunden war.

Die Fallbeispiele im Sammelband behandeln die DDR, Polen, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion bzw. die Sowjetukraine, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Im Fall der Tschechoslowakei macht Otfrid Pustejovsky drei unterschiedliche Phasen im Verhältnis von katholischer Kirche und Staat zwischen 1945 und 1968 aus. Drei Beiträge nehmen die Zwangsvereinigung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) mit der Russischen Orthodoxen Kirche 1946 auf der Pseudo-Synode von Lviv und die weitere Existenz der UGKK als Untergrundkirche in den Blick. Katrin Boeckh kommt dabei zu dem Ergebnis, dass viele Gläubige „innerlich, auch wenn sie nun formal in Gemeinden der Russischen Orthodoxen Kirche aufgingen, der Griechisch-Katholischen Kirche verbunden“ blieben (S. 209). Im Falle Rumäniens zeigt Lucian N. Leuştean auf, wie die Rumänische Orthodoxe Kirche mit dem kommunistischen Staat zusammenarbeitete. Dagegen war das Verhältnis von katholischer Kirche in Kroatien und jugoslawischen Kommunisten insbesondere im ersten Nachkriegsjahrzehnt von „Feindschaft und Konfrontation gekennzeichnet“ (S. 382), wie Aleksandar Jakir herausarbeitet.

Stefan Kube

Bild: Shutterstock.com

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